Auch Santiago hatte während seiner Zeit im Lazarett hier gehaust. Obgleich es sich um ein Gemeinschaftsprojekt von Vietnamesen und Kubanern handelte, bewohnten die Vietnamesen eine eigene Höhle und mieden den Umgang mit den Kubanern. Dort war Santiago dem Genossen Lit das erste Mal begegnet und prompt mit ihm aneinandergeraten. Vor seiner Ernennung zum Leiter der Bezirksstaatssicherheit hatte Lit die vietnamesischen Ingenieure betreut und überwacht. Obwohl die Kubaner über handwerkliches Geschick und umfassende Kenntnisse verfügten, behandelte Lit sie wie Provinztölpel, die bestenfalls für Zuarbeiten taugten. Als seine Vorgesetzten Lit mitteilten, dass er seine Befehle ab sofort von Dr. Santiago entgegennehmen werde, der noch dazu zum Leiter des Projekts berufen worden sei, verlor Lit das Gesicht. Santiago war überzeugt, dass Lit ihm das bis heute nicht verziehen hatte.
Da Dtui ihm nur schwer folgen konnte, erklärte Santiago sich bereit, sowohl seine Ausdrucksweise als auch seine Erklärungen möglichst schlicht zu halten. Er erzählte ihnen, dass er die stets gut gelaunten negritos anfangs für freundlich und umgänglich gehalten habe. Sie schufteten schwer und leisteten hervorragende Arbeit. Doch dann wurden unter seinen Leuten plötzlich Gerüchte laut, üble Gerüchte. Wie in Haiti praktizierte man auch in seiner Heimat schwarze Magie, eine Tradition, die bis nach Afrika zurückreichte. In Haiti nannte man sie Voudoun, in Kuba Palo Mayombe. Die Kubaner glaubten fest daran, dass sich mit Hilfe der Palo-Wundermittel jede Krankheit heilen ließ. So konnten sie nicht nur eine Geliebte becircen, sondern auch Hässliches in Schönes verwandeln. Leider habe letztere Methode bei ihm keinerlei Wirkung gezeitigt, scherzte Dr. Santiago.
Die Palo-Praktiken waren im Allgemeinen harmlos. Viele Kubaner machten davon Gebrauch, ebenso wie der Durchschnittslaote gelegentlich ein Horoskop las. Manche suchten Schamanen auf, um sich Rat zu holen oder auch einfach nur um ein wenig zu plaudern. Einige berühmte Palo-Mayombe-Schamanen konnten angeblich Wunder vollbringen. Die meisten leisteten lediglich Nachbarschaftshilfe. Doch es gab einen kleinen Kult, einen Ableger von Palo, der ungleich finsterere Ziele verfolgte. Er nannte sich Endoke, nach dem Bösesten aller Wesen, und versuchte die Geister durch Opferungen und Blutvergießen zu beschwören. Santiago kannte nicht wenige Patienten, denen Endoke eher geschadet als geholfen hatte.
Sie standen inmitten einer unheimlichen Höhle, und allein die Lichtstrahlen ihrer Stirnlampen durchdrangen das Dunkel. Das Geräusch tropfenden Wassers hallte von den Wänden wider, und allmählich beschlich Dtui bei Santiagos Worten ein mulmiges Gefühl.
»Kurz und gut«, fasste Siri zusammen, »die beiden Männer, Odon und Isandro, waren den Gerüchten zufolge Anhänger dieses Endoke-Kults.«
Dr. Santiago nickte. Zunächst hatte er nichts dagegen unternommen: Er wusste, dass sich die Kubaner, genau wie die Laoten oder Vietnamesen, gern Geschichten ausdachten, um ihre Freunde am Lagerfeuer zu unterhalten oder ihre Kinder am Davonlaufen zu hindern. Doch eines Tages kam eine Krankenschwester zu Dr. Santiago und führte ihn tief in den Berg, in dem sie sich jetzt befanden. Er bat Siri und Dtui, ihm zu folgen, und marschierte furchtlos in die Dunkelheit hinein.
Die Höhlen, die den Karst durchzogen, wurden mit jedem Schritt schmaler. Dtui blickte hilfesuchend zu Siri. Vor wenigen Monaten erst hatten die Ermittlungen in einem entsetzlichen Mordfall die beiden in Tunnels wie diese geführt. Wer einen halbwegs klaren Verstand sein Eigen nannte, hätte solch finstere Gänge wohl kaum betreten, bevor dieses Trauma überwunden war. Siri blieb stehen und sah Dtui an. »Fühlen Sie sich dem gewachsen?«
»Sie kennen mich doch, Doc. Für einen guten Lacher bin ich immer zu haben«, lautete ihre wenig überzeugende Antwort. Sie eilten Dr. Santiago hinterdrein; Siri bildete das Schlusslicht. Zum Glück brauchten sie nicht allzu tief ins Berginnere vorzudringen. Santiago schien sich in den Höhlen auszukennen, und bald hatten sie ihr Ziel erreicht.
Der Kubaner blieb stehen, trat einen Schritt zurück und ließ den Lichtstrahl für sich sprechen. Der Gang endete an einem natürlichen Altar mit einem schmalen Sims. Unleserliche Symbole waren mit Kreide an die Wand geschrieben und mit einem Zierrahmen aus Lehm versehen worden. Siri trat näher und richtete seine Lampe auf das Sims. Er beugte sich vor und schnupperte an dem dunklen Fleck, der die Platte bedeckte und sich in zwei parallel verlaufenden Rinnsalen bis über die Kante zog.
Santiago bestätigte seinen Verdacht: Es handele sich um Blut, und dies sei ein Opferaltar. Als er ihn das erste Mal gesehen habe, hätten sich weitere Gegenstände hier befunden, unter anderem ein Kessel, doch inzwischen habe sie wohl jemand fortgeschafft.
Dtui zog die Nase kraus. »Zum Glück ist das Sims zu schmal, um einen Menschen darauf zu opfern.«
Der gemeine Endoke-Zauber, erklärte Santiago, erfordere lediglich Hühner- und Schweineblut.
»Also haben Isandro und Odon zwar Tiere gequält und den Lebensmittelvorrat geplündert«, meinte Dtui, »waren ansonsten aber ungefährlich.«
Als sie dem Kubaner ihre Bemerkung übersetzte, geriet der in Rage. Er nahm Dtuis Hand und erklärte ihr, warum die beiden durchaus gefährlich waren. Das Blut der Opfertiere sollte die bösen Geister beschwören, den Rachedurst der Kubaner zu stillen. Endoke war eine Magie der Vergeltung. Wer einem Mann die Frau ausspannte, den belegte er mit einem Fluch. Wer den Bruder eines Mannes umbrachte, dem wünschte er Qualen an den Hals, die schlimmer waren als der Tod. Deshalb durfte man unter keinen Umständen den Zorn eines Endoke-Priesters erregen.
Dtui hatte Santiago eben gefragt, ob er tatsächlich glaube, dass die beiden Männer über derartige Fähigkeiten verfügten, als sie aus den Augenwinkeln bemerkte, wie Siri das Amulett unter seinem Hemd umfasste und mit besorgter Miene in den düsteren Tunnel starrte. Währenddessen ließ Santiago den Blick ein weiteres Mal über den Altar schweifen und erklärte ihr, dass die Male, die sie an ihrer Mumie entdeckt hatte, als »die Kratzer« bezeichnet wurden und denen, die diese Magie praktizierten, als Erkennungszeichen dienten. Nach der Entdeckung des Altars habe er die beiden in sein Büro zitiert und sie aufgefordert, ihr Hemd auszuziehen, worauf ihre rituellen Narben zum Vorschein gekommen seien. Da habe er …
»Wie viele?«, fragte Siri. Er hatte seine Stirnlampe abgesetzt und spähte mit zusammengekniffenen Augen in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Dtui machte sich gar nicht erst die Mühe, die Frage zu übersetzen. »Drei auf jeder Seite, Doc. Werden Sie langsam vergesslich? Ich habe Ihnen doch …« Plötzlich wurde ihr klar, dass die Frage nicht an sie gerichtet war. Siri hatte ihnen überhaupt nicht zugehört. Sie richtete ihre Lampe in den leeren Tunnel. Das Licht schien Siri aus einer Trance zu reißen.
»Einer von ihnen ist auf dem Weg hierher«, sagte er zu Dtui.
»Wen meinen Sie mit ›ihnen‹«?
»Die Geister der negritos .«
Sie hätte auf die Übersetzung gern verzichtet, aber das war sie Santiago schuldig. Die Nachricht schien den alten Arzt noch stärker zu beunruhigen als sie. Er presste sich rücklings gegen den Altar, und seine olivschwarzen Augen schnellten nervös hin und her.
»Und was sollen wir jetzt tun?«, flüsterte Dtui.
»Nichts«, antwortete Siri, der noch immer in den leeren Tunnel starrte. » Sie sagt, wir brauchen uns keine Sorgen zu machen.«
Dtui wollte lieber gar nicht wissen, wer »sie« war. Sie klammerte sich an Siris Arm und hielt den Atem an. Hinter ihr murmelte der Kubaner halblaut vor sich hin. Sie drehte den Kopf hin und her, ohne Erfolg. Außer Siri konnte den ungebetenen Besucher niemand sehen.
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