In Vieng Xai hatte der Buchhalter etwas gesehen, das ihn mit großer Sorge erfüllte, weshalb er beschloss, Santiago darauf anzusprechen. Sie verabredeten sich für acht Uhr abends. Eine Stunde vor dieser Zeit erschien Isandro in Santiagos Büro und erklärte ihm, der Rechnungsprüfer sei urplötzlich schwer erkrankt, er halte sich den Hals und könne nicht sprechen. Der Direktor eilte ans Bett des Mannes und sah sofort, dass er Todesqualen litt. Sie schafften ihn sogleich in den OP-Saal, wo Santiago einen Luftröhrenschnitt durchführte. Da es keine Anzeichen für eine Krankheit oder eine Verletzung der Atemwege gab, musste die akute Atemnot des Mannes von starken Schmerzen herrühren. Nach einigen weiteren Explorationsschnitten hatte Santiago die Ursache gefunden. Die Epiglottis des Kubaners hatte sich in Holz verwandelt – genauer gesagt, in eine harte Substanz, die dem Kern eines kleinen Pfirsichs ähnelte. Dem Chirurgen blieb nichts anderes übrig, als sie zu entfernen. Sie versetzten den Buchhalter in ein Tiefkoma und schickten ihn zurück nach Havanna. Als sie seine Sachen zusammenpackten, um sie ihm nachzuschicken, fanden sie in seiner Tasche einen Zettel. Darauf standen die Namen der beiden Pfleger, neben die der Mann verschiedene Endoke-Symbole gekritzelt hatte.
Während die Geschichte vom Affenfötus aus zweiter Hand stammte und bis zu einem gewissen Grad aus Spekulationen und Mutmaßungen bestand, hatte Santiago diese bizarre Erscheinung mit eigenen Augen gesehen. Bald darauf hatte er den Altar entdeckt, Isandro und Odon zur Rede gestellt und sie nach Kuba zurückbeordert.
Siri wollte wissen, warum Santiago keine Angst vor Vergeltung gehabt habe, wo die beiden Männer doch angeblich über so ungeheure Fähigkeiten verfügten. Der Kubaner verzog den Mund zu einem breiten Grinsen und knöpfte sich langsam das Hemd auf. Siri und Dtui staunten nicht schlecht. Unzählige Talismane baumelten wie die Amtskette eines Bürgermeisters auf seiner Brust. Vor ihnen saß ein angesehener Wissenschaftler, der mit einem Kranz aus Talismanen, getrockneten Blüten, Metallklümpchen, diversen Zähnen und sorgsam platzierten Knoten behängt war. Es war ein Wunder, dass er bei dem Gewicht überhaupt aufrecht stehen konnte. Siris einsamer weißer Talisman konnte da nicht mithalten. Santiago bekannte sich offen und ehrlich zu seiner Angst vor den beiden Endoke-Priestern. Siri fand es irgendwie tröstlich, dass er nicht der einzige Gelehrte war, der auf Magie zurückgreifen musste, um am Leben zu bleiben.
Siri ging nach oben auf sein Zimmer und zog sich aus, um zu duschen. Seit seinem Erlebnis am Altar hatte er ein komisches Gefühl. Seltsame Gelüste regten sich in ihm. Normalerweise entledigte er sich nur ungern seiner Kleidung, aber heute verspürte er das sonderbare Verlangen, sich im Schrankspiegel zu betrachten, was er jahrelang tunlichst vermieden hatte. Er war kein Adonis. Und taugte auch nicht als Modell für eine Statue. Doch aus irgendeinem Grunde erfüllte der Anblick seines drahtigen Körpers ihn mit Stolz. Mit gefärbten Haaren hätte er glatt als fünfundsechzig, ach was: sechzig durchgehen können. Er wirkte kräftig und, ja, männlich. Heute hatte er aus irgendeinem Grunde das Gefühl, mit bloßen Fäusten Kokosnüsse, wenn nicht gar Steine spalten zu können.
Er ließ seine graue Unterhose aus PL-Beständen zu Boden sinken und stolzierte, aufrecht und splitterfasernackt, im Zimmer auf und ab. Er ließ seinen Penis hin und her baumeln, spannte seinen Bizeps, fletschte die Zähne im …
»Noch Tee?« Die Küchenfrau stand in der Tür. Er hatte sie nicht kommen hören. Sie hielt eine frische Thermoskanne in der Hand und musterte ihn mitleidig von Kopf bis Fuß, wie einen Demenzkranken, der seine Hose verlegt hat. »Alles in Ordnung, Onkel?«
Siri riss die Steppdecke vom Extrabett und schlang sie um seinen nackten Körper. »Mir fehlt nichts. Vielen Dank.«
Eine Stunde später war er – anständig gekleidet, aber nicht minder beschämt – zurück im Haus des Präsidenten. Wieder beugte er sich über die Mumie. Er hatte sich noch nie so oft mit ein und derselben Leiche befasst, doch je mehr er über sie in Erfahrung brachte, desto rästelhafter schien sie zu werden. Zweierlei machte Siri nach wie vor Sorgen. Wenn die beiden Kubaner tatsächlich nach Hause geflogen waren, was hatte Odon dann einen Monat später in der Präsidentenhöhle gesucht? Und wenn er tatsächlich brutal misshandelt und in Zement ertränkt worden war, warum hatte er sich dann so sehr an einen Schlüssel geklammert, statt sich mit beiden Händen zur Wehr zu setzen?
Siri fischte den Schlüssel aus der Hosentasche und trat hinaus auf den Balkon des neuen Hauses. Erst genoss er den grandiosen Blick über das Tal. Dann ging er in den Garten, reckte den Hals und sah zum Karstgipfel hinauf. Von dort oben war der Felsblock herabgestürzt, der zum Fund der Leiche geführt hatte. Komisch, dass er zehn Tage vor dem Konzert ausgerechnet dort gelandet war. Er näherte sich dem schmalen Weg, der zu der alten Höhle hinaufführte. Der Aufschlagpunkt befand sich genau auf halber Strecke zwischen Haus und Höhleneingang. Was hast du dort gemacht, Señor?
Nachdem die Häuser der früheren Höhlenbewohner fertig gestellt und ihre Akten und persönlichen Habseligkeiten dorthin verbracht worden waren, hatten die ranghohen Kader keinerlei Veranlassung mehr, in die Höhlen zurückzukehren. Ebenso gut hätte der Graf von Monte Christo dem Château d’If einen Besuch abstatten können, um sich der glücklichen Zeiten zu erinnern, die er dort hatte verbringen dürfen. Also waren die Höhlen versiegelt worden, um Tiere fernzuhalten und sie als historische Sehenswürdigkeiten zu bewahren. Gab es einen besseren Ort als diesen? , überlegte Siri. Gab es ein geeigneteres Versteck als die leer stehende Präsidentenhöhle ?
Er folgte dem Betonweg, machte einen kleinen Bogen um die Bruchstelle und stand vor dem Höhleneingang. Eine richtige Tür in einem rechteckigen Rahmen war in die Felswand eingelassen. Da Siri von jeher zum Absurden neigte, stellte er sich vor, wie er die Klingel drückte, durch den Briefschlitz spähte und die Füße an einer Eselshaarmatte abstreifte. Doch die Tür war verrammelt und verschlossen, und um sie aufzubrechen, hätte es schon einer kleinen Brigade hartnäckiger Feuerwehrleute bedurft. Er ließ die Tür links liegen und kletterte ein Stück bergauf, aber der Pfad endete schon nach wenigen Metern in einer Sackgasse. Auf dem Weg nach unten kam er ein zweites Mal an der Tür vorbei, umrundete einen kleinen Felsausläufer und stand vor einer Art Hintertür.
Auf den ersten Blick schien auch sie verrammelt und verschlossen. Ein Nachtwächter hätte bei flüchtiger Überprüfung wohl nichts Verdächtiges festgestellt. Siri inspizierte die Bretter, die quer über das Türblatt genagelt waren. Eine dicke Eisenkette mit Vorhängeschloss schlang sich durch zwei Bügel, die den Rahmen mit der Tür verbanden. Sie wirkte stabil. Er trat einen Schritt zurück und starrte sie an. Als er des Rätsels Lösung gefunden hatte, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Das Ganze war eine geschickte optische Täuschung. Er umfasste den Griff und zog daran. Die geölten Scharniere öffneten sich, und die Tür schwang auf, samt Brettern, Rahmen und Eisenkette.
Bevor er hineinging, kramte Siri die Taschenlampe aus seiner Umhängetasche. Er hielt kurz inne, um die raffinierte Attrappe zu bewundern, und ließ sie dann lautlos hinter sich ins Schloss fallen. Die PL-Höhlen waren teils natürlich, teils von Menschenhand geschaffen. Wo es keine Felsnischen gab, dienten Sperrholzverschläge als Zimmer, sodass man sich vorkam wie in einem engen, kleinen Motel. In jeder Höhle gab es einen luftdichten Raum mit Schutztüren für den Fall eines Chemiewaffenangriffs. Aus irgendeinem Grunde – und sei es, weil die Amerikaner tatsächlich nicht gewusst hatten, wo sie steckten – waren die Pathet Lao in den Höhlen von Vieng Xai von solch gemeinen Attacken verschont geblieben.
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