»Ich wollte Sie nicht stören. Ich weiß ja, wie hektisch es dort draußen manchmal zugeht. Aber wollen wir uns nicht in den Speisesaal setzen? Ich habe uns ein paar Flaschen vietnamesisches Bier mitgebracht. Ich bin gespannt, wie Sie mit den Ermittlungen vorangekommen sind.«
Das Bier erwies sich als keine gute Idee. Es war warm und schon ein wenig schal, und Siri wusste aus Erfahrung, dass es ihm einen mächtigen Brummschädel bescheren würde. Trotzdem verlief die Besprechung durchaus angenehm. Er schilderte Lit in allen Einzelheiten, was geschehen war – der Altar, die Opferungen, das Geheimversteck in der Präsidentenhöhle – und verschwieg ihm lediglich die Begegnung mit Odons Geist und der Fledermaus. Lit schien beeindruckt und machte sich eifrig Notizen. Viel mehr hatte er offenbar nicht beizutragen. Weder war es ihm gelungen, Oberst Ha Hungs Familie ausfindig zu machen, noch hatte er einen Zeugen für die Rückkehr der beiden Kubaner aus Hanoi auftreiben können. Siri bezweifelte, dass der Mann es überhaupt versucht hatte.
Eine Frage ließ Siri keine Ruhe: Warum hatten die zuständigen Behörden ein erkleckliches Sümmchen für den Bau eines Weges bereitgestellt, der vom Haus des Präsidenten zu dessen früherer Höhle führte, obwohl die Höhle verlassen war und seit dem Auszug niemand auch nur das geringste Interesse dafür bekundet hatte? Lit erklärte ihm, es handele sich um einen historischen Ort wie Lincolns Hütte oder Hitlers Bunker, und in nicht allzu ferner Zukunft würden Scharen von Touristen nach Vieng Xai pilgern, um die Gründungsstätte der stolzen, ruhmreichen Republik in Augenschein zu nehmen.
Diese Antwort genügte Siri, obwohl er sich Busreisen nach Vieng Xai nur schwer vorstellen konnte. Sie tranken ihr Bier aus Teetassen, bis Lit schließlich in den Nebel davonfuhr, der mit dem Einbruch der Dunkelheit gekommen war.
Jetzt saß Siri mit einer Tasse starkem Kaffee auf der Veranda. Ihm fehlte der Klang der klui , die ihre immer gleiche Melodie spielte. Der Wachposten im ersten Stock war verschwunden, ebenso die Sperrholzwand, und die Zimmer standen leer. Keiner der Angestellten schien zu wissen oder preisgeben zu wollen, wohin man die königliche Familie gebracht hatte, und Siri glaubte nicht, dass er sie jemals wiedersehen würde. Das Küchenpersonal war zu Bett gegangen und hatte Siri gebeten, die Tasse über Nacht mit auf sein Zimmer zu nehmen. Die Tassen waren, wie Teller und Besteck, nummeriert und wurden zu jedem Monatsletzten einer gründlichen Inventur unterzogen.
Nach den zwei arbeitsreichen Tagen im Krankenhaus genoss er die nächtliche Ruhe von Vieng Xai. Obwohl es sich um eine mittlere Großstadt handelte, waren die Einwohner Landmenschen, die früh schlafen gingen und mit der Sonne aufstanden. Er genoss die Kälte und die feuchten Wolken, die so tief hingen, dass er nur auf einen Stuhl zu klettern brauchte, um hineinzugreifen. Er genoss das ferne Krähen eines nicht ganz stimmsicheren Hahns und das Bellen der Lemuren hoch oben in den Karsten. Und dann, als wollte der Gott des Elends persönlich ihm die Laune verderben, plärrte auf einmal die verfluchte Diskothek los. Es war kein Plattenspieler und kein Radio. Der Bass ließ den Boden unter seinen Füßen erzittern. Er hörte junge Leute einen Refrain mitgrölen, dessen Text sie nicht verstanden.
Da er seit seiner Rückkehr noch nicht auf seinem Zimmer gewesen war, lag seine Tasche mit der Lampe neben ihm auf dem Stuhl. Irgendetwas drängte ihn, der Sache auf den Grund zu gehen und dem Beat zu folgen. Das Echo in einem Tal voller Felsnadeln kann bisweilen täuschen, doch der Lärm schien aus dem Höhlenkomplex der Armee zu kommen. Der lag knapp einen Kilometer entfernt, hinter dem Fußballplatz. Er trank seinen Kaffee aus und steckte die Tasse in seine Tasche. Ohne seine Taschenlampe hätte er sich mit Sicherheit verlaufen. Am Himmel standen weder Mond noch Sterne, und da das Personal des Gästehauses bereits im Bett lag, brannte auch kein Licht, das ihm den Weg hätte weisen können. Orientierung boten ihm allein das Pochen unter seinen Füßen und die immer lauter werdende Musik. Doch als er sich dem Krach auf leisen Sohlen näherte, geschah etwas Unerhörtes. Plötzlich packte ihn der Rhythmus.
In ihrer Zeit an der Pariser Universität hatten Siri und Boua gelegentlich in kleinen Studentencafés miteinander getanzt. Nach ihrer Rückkehr in die Heimat hatten sie sich den rauschhaften lumwong- Kreistänzen hingegeben, einer Art Zeitlupen-Mückenklatschen zu Musikbegleitung. Doch weder das eine noch das andere erforderte besonderes Rhythmusgefühl, was Siri sehr entgegenkam, denn er verfügte über nichts dergleichen. Kopfnicken und Fingerschnippen waren ihm fremd, trotzdem bewegte er sich zu seinem Erstaunen im Takt der Musik. Er schwang sogar die Hüften. Der Mittelfinger seiner rechten Hand schnipste immer wieder gegen den Daumenballen und erzeugte dabei ein Geräusch wie ein Streichholz auf einer nassen Reibfläche. Es war eine bizarre, aber keineswegs unangenehme Empfindung. Er fühlte sich eins mit der Musik, eine unerklärliche Symbiose, die er noch bis vor Kurzem für unmöglich gehalten hätte.
Er überquerte das holprige Fußballfeld und nahm den unbefestigten Weg, der am Haus des Generals vorbei zu den Armeehöhlen führte. Er war bereits ein paar Mal dort gewesen. Oben lagen die in den Berg gehauenen Wohnungen der Militärführung. Darunter erstreckte sich eine riesige natürliche Höhle, die man zum Konzertsaal ausgebaut hatte. Am einen Ende befand sich eine betonierte Bühne mit einem tiefen Orchestergraben. Die Sitzreihen stiegen zum schmalen Höhleneingang hin sanft an, durch den tagsüber ein wenig Licht und nachts kühle Luft hereinströmte. Der Saal verfügte über eine Quelle, an der die Konzertbesucher ihren Durst löschen konnten, und eine Akustik, um die ihn selbst die Mailänder Scala beneidet hätte.
Hier sollte in der nächsten Woche das Konzert für Freundschaft und Zusammenarbeit stattfinden, ein starträchtiges Spektakel zur Feier der Unterzeichnung des laotisch-vietnamesischen Fünfundzwanzig-Jahres-Vertrages über Freundschaft und Zusammenarbeit der beiden Staaten. Die früheren Höhlenbewohner würden zu einem nostalgischen Wochenende anreisen, die ausländischen Gäste in ihre eleganten neuen Häuser einladen und sie am Sonntagabend in dieses unterirdische Wunderwerk entführen, um sich eine Vorstellung der besten vietnamesischen Tänzer und Musiker anzusehen. Danach würden sie sich beim lumwong ins Reiswhisky-Nirwana schunkeln, bis sie in ihr Quartier zurückgetragen werden mussten. Siri hatte Lit gefragt, warum das Unterhaltungsprogramm ausschließlich von Vietnamesen bestritten werde. Zwar rage die Provinz Houaphan geografisch gesehen in das Nachbarland hinein wie der Hintern einer dicken Frau aus einem schmalen Badezimmerfenster, gehöre seines Wissens aber immer noch zu Laos. Lit betete die entsprechenden Parolen herunter – »unseren vietnamesischen Gästen Respekt zollen«, »von erfahreneren Künstlern lernen« -, hatte jedoch keine Erklärung dafür, warum Laos nicht eine einzige Attraktion zu bieten hatte, mit der man die Gäste hätte beeindrucken können.
Diese Gedanken schossen Siri durch den heftig wippenden Kopf, als er sich der Quelle des Lärms näherte. Er redete sich ein, es müsse sich um eine Probe handeln. Vermutlich stellten sie die Lautsprecheranlage auf die Saalakustik ein und hatten nur Discomusik auf Band. Es war eine logische Erklärung, und er konnte sich eventuell dazu durchringen, ihnen zu verzeihen. Er hatte die letzten drei Jahrzehnte in Gesellschaft von Soldaten zugebracht, für die Gehorsam und Befehlserfüllung sämtliche sozialen und moralischen Bedenken außer Kraft setzten.
Da die dichten Stachelbeerbüsche, die einst zur Tarnung des Höhleneingangs gedient hatten, beseitigt worden waren, gelangte Siri ungehindert bis vor die Öffnung in der Felswand. Nun musste er nur noch zwei, drei hohe Steinstufen erklimmen, dann schließlich stand er an der Treppe, die in den Saal hinunterführte. Von hier oben konnte er bis zur Bühne sehen. Ihm blieb die Luft weg. Er plumpste schwerfällig auf eine Stufe. Eine Sekunde später, und er wäre aus den Pantinen gekippt. Der Konzertsaal war voll – berstend voll -, ein brodelnder Hexenkessel, ein wildes Getümmel und Gewimmel. Er hatte keine Ahnung, wo die Musik herkam. Nirgends waren ein Discjockey oder gar Lautsprecher zu sehen, trotzdem ging ihm der stampfende Beat durch Mark und Bein. Er schlug mit dem Fuß den Takt und ließ den Blick über die wogende Menge schweifen. Das waren keine schicken jungen Leute in Schlaghosen und breitkragigen Hemden. Sondern Menschen wie du und ich. Bauern, Mütter, die ihre Babys auf dem Rücken trugen, alte Männer. Die einzigen Teenager, die er ausmachen konnte, steckten in fleckigen Uniformen und machten ein verwirrtes Gesicht, als hätten sie sich versehentlich hierher verirrt. Selten hatte sich in Houaphan ein so gemischtes Publikum an einem Ort versammelt und mit solcher Begeisterung gefeiert.
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