Sie strich Panoy das Haar aus der Stirn und wandte sich zum Gehen. Zu ihrem Erstaunen stand Genosse Lit in der Tür. Er hatte die Sonne im Rücken und sah aus wie ein junger Gott. Die neuen Epauletten auf den Schultern seiner Uniform schimmerten wie Engelsschwingen. Fast hätte sie vergessen, dass sie ihn nicht ausstehen konnte.
»Schwester Dtui.« Er nickte steif.
»Genosse Lit. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Hätten Sie vielleicht ein paar Minuten Zeit für mich?«
»Schießen Sie los«, sagte sie.
»Ich dachte, wir könnten vielleicht nach draußen gehen.«
»Genosse, diese Patienten sind so stark sediert, dass sie selbst dann noch beseelt lächeln würden, wenn Sie sie mit einem Lastwagen überrollen würden.«
»Trotzdem …«
»Es ist heiß draußen. Hier drinnen ist es zwanzig Grad kühler … außerdem bin ich im Dienst.« Er ging ihr auf die Nerven. Konnte er nicht einfach sein Sprüchlein aufsagen und sich wieder verdrücken?
»Wie Sie wünschen«, sagte er und trat ins Zimmer. Dtui stemmte den Arm in die Hüfte und rechnete mit einer Gardinenpredigt. Doch die Aura der Arroganz, die den Sicherheitschef sonst umgab, war mit einem Mal wie weggeblasen. Er wirkte irgendwie zerbrechlich, schüchtern beinahe. Es bereitete ihm sichtlich Mühe, aufrecht zu stehen: Er erinnerte eher an einen schlaffen Wandbehang denn an eine starke Säule. Sein Schweigen beunruhigte Dtui.
»Je eher Sie mit der Sprache herausrücken, desto eher kann ich wieder an die Arbeit gehen«, sagte sie. Seine unsichere Miene verwirrte sie. Er starrte über ihre Schulter hinweg auf einen Punkt an der Wand.
»Ja«, sagte er schließlich. »Sie haben Recht. Das Leid der Unterdrückten und Geknechteten hat Vorrang vor unseren alltäglichen Sorgen und Nöten. Das Wohl der Patienten steht für uns ganz zu Recht an erster Stelle.«
»Gut«, sagte sie. »Dann haben Sie doch sicher nichts dagegen, wenn ich mich jetzt um die Geknechteten kümmere.« Sie ging an ihm vorbei zur Tür. Die Situation hatte etwas Absurdes.
»Aber …«
Sie drehte sich um. »Aber?«
Wie auf ein Stichwort hob er zu einer Rede an. Er hatte sie eindeutig erst niedergeschrieben und dann auswendig gelernt. Dennoch gab es für Dtui nicht den geringsten Zweifel, dass Genosse Lit stundenlang an diesem Vortrag gefeilt, gehobelt und geschliffen hatte. Trotz diverser unpassender Vergleiche aus dem Ingenieurswesen war sie ohne Frage das Schönste, was sie je gehört hatte.
Zwar hatte sie in ihrer Schulzeit durchaus den einen oder anderen Freund gehabt. Zumindest war es damals üblich gewesen, Pärchen zu bilden und miteinander zu »gehen«. Aber die Jungs, mit denen sie sich eingelassen hatte, waren ausnahmslos Versager gewesen. Sie interessierten sich mehr für ihre Brüste als für ihre Seele. Immer wenn sie an diese desaströsen Tête-à-têtes zurückdachte, erinnerte sie die Hautfarbe ihrer Verehrer unweigerlich an Früchte – an das Blassrosa der Lychee, das Braun des Breiapfels, das Orange der Süßmango -, und genau wie überreife Früchte waren diese Kerle verdorben und widerlich gewesen. Und hatten sie schließlich sitzen lassen. Während Lit seine Ansprache herunterleierte wie ein Fünftklässler den Fahneneid, verliebte sie sich Hals über Kopf in seine Worte. Auch wenn sie sich hinterher an kaum eines entsinnen konnte, weil sie so überwältigt war, dass ihr Gedächtnis sie im Stich ließ. Sie wusste nur noch, dass sie bei der Ausgrabung der Mumie ungeheuren Eindruck auf ihn gemacht hatte. Er hatte ihr gestanden, dass er ständig an sie denken müsse, und ihre Augen mit Sternen verglichen. Was vermutlich auf einen bekannten Schlager zurückging, aber dieses kleine Plagiat verzieh sie ihm gern. Dass er ihre Augen überhaupt bemerkt hatte, genügte ihr. Er hatte ihr seine Vermögenslage und seine Aufstiegschancen dargelegt, und dann, quasi im selben Atemzug, hatte er die Bombe platzen lassen: Er wäre hocherfreut, wenn Schwester Dtui ihm die Ehre erweisen würde, seine Frau zu werden – einfach so, vom Fleck weg, ohne auch nur anzudeuten, dass er die Ware zuvor prüfen wolle.
So etwas bleibt bei einer Frau nicht ohne Wirkung, zumal wenn sie solch einen Antrag noch nie zuvor erhalten hat. Ein Mann – der nicht nur über zwei gesunde Augen, sondern auch über sämtliche erforderlichen Gliedmaßen verfügte – war ihr so sehr zugetan, dass er sein Leben mit ihr verbringen wollte. Das genügte, um sie die Abneigung, die sie ihm gegenüber empfunden hatte, vorübergehend vergessen zu lassen. Ihre Knie bebten so heftig, dass sie sich auf die Kante eines Bettes setzen musste. Sie brachte kein Wort heraus. Er wiederum war mit seinem Text zu Ende, und so saßen beziehungsweise standen sie stumm in dem dunklen Zimmer, begleitet nur vom bewusstlosen Zungenschnalzen eines alten Mannes.
Endlich fand Dtui ihre Stimme wieder. »Ich …«
»Sie werden vermutlich etwas Zeit brauchen, um über all das nachzudenken«, fiel er ihr ins Wort. »Die Entscheidung liegt ganz bei Ihnen. Ich sollte vielleicht hinzufügen, dass die Bezirkskommission für Partnerschaften und Beziehungen unseren Antrag auf Verlobung bereits bewilligt hat. Mit Unterschrift und Siegel. Nun gut. Dann bis später.« Zwar salutierte er nicht, bevor er sich zum Gehen wandte, doch das Nicken, mit dem er sie bedachte, ehe er triumphierend in die Sonne hinaustrat, hatte durchaus militärischen Charakter.
Schwester Dtui verschlug so leicht nichts die Sprache. Das war eine ihrer Stärken. Sie war nie um eine clevere Antwort verlegen – eine witzige Bemerkung, die selbst in den dunkelsten Momenten zur Erheiterung beitrug. Jetzt aber saß sie geschlagene fünf Minuten im Saal der Bewusstlosen und wusste beim besten Willen nichts zu sagen. Sie war ebenso benommen wie die Patienten ringsumher. Und wäre es vermutlich auch noch eine Weile geblieben, wenn Panoy nicht ausgerechnet in diesem Moment aus ihrem Koma erwacht wäre. Als sie ein Geräusch hörte, schrak Dtui unwillkürlich zusammen. Sie drehte sich um und sah Panoy aufrecht im Bett sitzen. Die kleine Hmong starrte sie aus großen Augen an. Sie murmelte mit schwacher Stimme etwas vor sich hin, das Dtui nicht verstand. Eines jedoch war ihr sofort klar. Es war nicht die Stimme eines Kindes.
Nachdem auch der letzte Gast das Gästehaus Nr. 1 geräumt und seine Habe den Langfingern überlassen hatte, gab es für den Lastwagen des Gästehauses keine Verwendung mehr. Und so hatte das Personal auch nichts dagegen, wenn Siri ihn sich borgte – sofern er das Benzin aus eigener Tasche bezahlte. Er hatte gehört, unweit der Grenze, bei Sop Hao, habe eine vietnamesische Einheit ihre Zelte aufgeschlagen. Dieselbe Einheit war bis zu dem groß angekündigten, dann aber doch nur vorübergehenden Abzug der vietnamesischen Truppen in Laos stationiert gewesen. Es war dieselbe Einheit, die Oberst Ha Hung befehligt hatte. Siri befand, es könne nicht schaden, ihr einen kleinen Besuch abzustatten.
Er genoss die Fahrt. Während der Rest des Landes verdorrte, fiel im Nordosten nach wie vor ausreichend Regen zur Bewässerung der Felder an den Hängen. In der gleißenden Vormittagssonne lagen sie da wie zu spitzen Pyramiden aufgetürmte Spiegelscherben. Kleine Mädchen, die eben im Dorfteich gebadet hatten und noch zu jung waren, um Scham zu empfinden, marschierten nackt am staubigen Straßenrand entlang und trugen ihre Sarongs als Hüte. Er wurde von einem Lastwagen überholt, der kleine Schweine in leichten Käfigen aus Rohrgeflecht zum Schlachthof transportierte. Ihre Knopfaugen schwammen in Tränen.
Rechts und links reihte sich ein liebevoll gepflegtes Reisfeld an das andere. Große Löffelblüten und Juckfrüchte schmückten die Hecken. Er kam vorbei an einem Tempel, dessen Portal mit einem Vorhängeschloss gesichert war. Stammesleute aus den umliegenden Hügeln trugen Körbe voller Zweige auf dem Rücken, die an Riemen baumelten, die sie sich um die Stirn geschlungen hatten. Mit Schellen behängte Ponys kündigten niemand Bestimmtem ihr Kommen an. Irgendwo im Nirgendwo schulterte ein junger Mann eine Gitarre. Die Büffel, an denen Siri vorbeikam, hoben ohne Ausnahme den Kopf und hörten auf zu kauen, um den Doktor vorüberfahren zu sehen. Der beschauliche Friede ringsumher wärmte ihm das Herz. Er lächelte fröhlich in sich hinein, und seine Schultern zuckten im Takt einer unhörbaren Disconummer.
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