»Genau. Und sie kam durch, zur großen Erleichterung ihrer Eltern. Aber bevor die Rekonsalves-, Rekonlasze- … bevor sie sich nicht vollständig erholt hatte, konnte sie nicht entlassen werden. Und während sie so da oben in den Höhlen lag – und hier kommen die Gerüchte ins Spiel -, freundete sie sich mit einem der Pfleger an. Kubaner. Keine Ahnung, ob er es ihr schon im Krankenhaus besorgt hat oder …«
Zu seiner eigenen Verwunderung stürzte Siri sich quer über den Tisch auf den Oberstabsfeldwebel. Tassen und Teller flogen nach allen Seiten. Er schien dem alten Mann einen Kinnhaken versetzen zu wollen. Die beiden Soldaten sprangen auf und sahen den Doktor entsetzt an. Siri war nicht minder erstaunt als sie.
»Es … es tut mir schrecklich leid«, sagte er und suchte krampfhaft nach einer Erklärung. »Ich … ich habe diesen nervösen Tick. Da kann so etwas schon mal vorkommen. Ich bitte vielmals um Verzeihung.« Er klaubte die Bakelittassen vom Fußboden.
Der Oberstabsfeldwebel lachte. »Nichts für ungut. Aber Sie haben mir einen höllischen Schrecken eingejagt. Ich dachte schon, Sie wären prüde oder so.«
»Alles in Ordnung?«, fragte Vo.
»Alles bestens«, versicherte Siri und faltete die Hände im Schoß. Odon musste gebändigt werden. »Bitte fahren Sie fort, Herr Oberstabsfeldwebel.«
»Gut. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja. Sie, äh, treibt es also mit dem Pfleger, und der Junge denkt wahrscheinlich, er ist im Himmel und hört die Englein singen. Er lernt eine hübsche kleine Vietnamesin kennen, und weil er weiß, dass es auf der ganzen Welt keine fügsameren Frauen gibt, will er sie natürlich haben. Also marschiert er geradewegs zum Oberst – der Bursche hatte anscheinend Eier wie Kokosnüsse in der Hose – und bittet ihn um die Erlaubnis, seine Tochter auszuführen. Der Oberst traute seinen Ohren nicht.«
»Warum? Das war doch sehr anständig von dem jungen Mann.«
»Warum? Das kann ich Ihnen sagen, Doktor. Weil dieser Pfleger schwarz war. Schwarz wie das Arschloch eines Affen« – Siri haderte mit seinen Händen -, »schwarz wie …«
»Schon gut. Ich habe verstanden. Er war schwarz.«
»Sie wissen ja, wie das ist. Einer von diesen Schönwetterkommunisten aus der Karibik. Die überall da zu finden sind, wo es was zu holen gibt. Jedenfalls lachte der Oberst dem Knaben ins Gesicht. Aber der Bimbo blieb einfach sitzen. Der Oberst zeigte ihm die Tür, aber der Bimbo rührte sich nicht vom Fleck. Also ließ der Oberst ihn die Bambusrute schmecken. Aber es half alles nichts. Der Mistkerl wollte sich ums Verrecken nicht verpissen. Am Ende brauchte es ein Dutzend Männer mit Knüppeln.«
Giap und seine Geschichte wurden Siri von Minute zu Minute unsympathischer. »Und dann?«
Giap zögerte. »Damit hatte es sich. Das Mädchen wurde aus den Höhlen in ein Krankenhaus verlegt, wo es keine Pfleger, sondern nur Schwestern gab, und ihr keiner an die Wäsche ging, während sie bewusstlos war. Soviel ich weiß, wurde sie wieder gesund.«
»Und sie hat den Kubaner nie wiedergesehen?«
»Das glaube ich kaum. Sonst wäre er jetzt tot.«
Siri fragte sich, ob er das nicht längst war. »Wie haben sich die beiden verständigt?«
»Was?«
»Der Pfleger und das Mädchen. In welcher Sprache haben sie sich unterhalten?«
»Keine Ahnung, Doktor. Aber die Kleine war nicht auf den Kopf gefallen. Sie konnte Russisch, so viel steht fest. Und wer weiß, vielleicht sprach sie sogar Afrikanisch.«
Das Gespräch dauerte eine weitere halbe Stunde, doch viel mehr hatte der Oberstabsfeldwebel nicht mitzuteilen. Vor allem wusste er nicht, was nach dem Tod des Obersts aus dessen Frau und Tochter geworden war. Siri stellte ihm noch eine Reihe ebenso banaler wie unnötiger Fragen und wartete darauf, dass Vo das Interesse verlor. Doch Vo ließ sie nur ein einziges Mal kurz allein, um die Latrine aufzusuchen. Da schlug Siri zu.
»Hören Sie, Bruder. Ich verspreche Ihnen, dass Ihre Vorgesetzten kein Wort davon erfahren. Bitte vertrauen Sie mir. Ich muss wissen, was bei dem Hinterhalt genau geschah. Wie ist Oberst Ha Hung ums Leben gekommen?«
Giap sah zum Zelteingang, dachte ein paar Sekunden über die Frage nach und beugte sich dann quer über den Tisch zu Siri. »Er wurde von einem Augenblick zum anderen verrückt, Doktor. Im Ernst. Wir befanden uns in einem Tal. Unsere Krad-Eskorte hatten sie schon abgeschlachtet, aber unsere Wagen waren gepanzert. Wir hätten noch tagelang ausharren können. Normalerweise legten die Hmong einen Konvoi ein paar Stunden lahm, knallten jeden ab, der ihnen vor die Flinte kam, und verschwanden dann im Dschungel, um sich mit ihren Heldentaten zu brüsten. Die Yankees waren kurz zuvor abgezogen, sie hatten also keinen unbegrenzten Munitionsvorrat mehr zur Verfügung, mit dem sie uns Feuer unterm Hintern hätten machen können. Wir hätten bloß abzuwarten brauchen.«
»Aber?«
»Aber« – er senkte die Stimme – »auf einmal war der Oberst wie von Sinnen. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Im Kampf war er stets die Ruhe selbst gewesen. Ich habe ihn nicht ein einziges Mal die Beherrschung verlieren sehen. Aber an diesem Tag sagt er plötzlich so was wie: ›Du hast es nicht besser verdient!‹ Mit tiefer, unheimlicher Stimme. Er zieht seine Pistole und springt aus dem Panzerwagen. Er springt einfach raus, wie ein Cowboy. Und brüllt ›Attacke!‹. Wie kann ein Mensch so blöd sein, in einer Situation wie dieser anzugreifen? Eben. Also rührten wir keinen Finger. Aber damit hatte er wohl auch nicht ernsthaft gerechnet. Er rannte mutterseelenallein über die Lichtung. Er landete noch ein, zwei Treffer, aber ich wette, die Hmong saßen in den Bäumen und lachten sich ins Fäustchen. Ein uniformierter Offizier? Damit ließ sich mächtig Eindruck schinden. Sie durchsiebten ihn mit Blei.«
Siri war verblüfft. »Dann war das Ihrer fachmännischen Meinung nach also nicht die Tat eines Mannes im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte?«
»Alle Überlebenden waren sich einig, dass der Teufel in ihn gefahren war, Doktor. Wir alle, ohne Ausnahme.«
Bei Kasi kam Herr Geung wieder auf die Bundesstraße 13. Er wusste nicht, dass es dieselbe Straße war, die er vier Tage zuvor verlassen hatte. Die Straßen sahen alle gleich aus. Aber da die Sonne ihn nach Süden lotste, wusste er, dass die Straße in die richtige Richtung führte.
In seiner Hand lag ein spitzer Stock. Er diente ihm als Waffe gegen wilde Tiere. Der Stock, der den Tiger getötet hatte, war sehr viel größer gewesen, doch der Ast hatte sich als zu schwer erwiesen, um ihn mitzuschleppen. Ein Stock war ein Stock. Und ein toter Tiger war ein toter Tiger.
Es war kurz vor Tagesanbruch, und er hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. Der Tiger lag direkt unter ihm und wartete darauf, dass er müde wurde und vom Baum fiel wie eine reife Mango. Er hatte mehrmals versucht, ihm nachzuklettern, ohne Erfolg. Einmal hatte Geung ihm mit seinem Stiefel fast die Zähne eingetreten. Die Wucht des Tritts war so groß gewesen, dass der Tiger aus dem Gleichgewicht geraten und zu Boden gestürzt war. Geung hatte ein schlechtes Gewissen deswegen. Von da an schlief der ebenso frustrierte wie geduldige Tiger mit gespitzten Ohren. Später überlegte Geung, ob das Tier das Knacken wohl gehört hatte, bevor der Ast, auf dem er saß, gebrochen war. Er wusste nur noch, dass er und der Ast urplötzlich mit rasender Geschwindigkeit in die Tiefe stürzten. Er hörte ein zweites Knacken, gefolgt von einem dumpfen Schlag, worauf ihm ein stechender Schmerz vom Steißbein aus zwischen die Schulterblätter fuhr. Er landete im dichten Gras und wartete ächzend und keuchend darauf, dass der Tiger kam und ihn in Fetzen riss. Doch der Tiger kam nicht.
Er wandte den Kopf und sah die Katze neben sich liegen, tot. Sie war wunderschön. Ihre Augen waren schwarz umrandet wie die der Mädchen hinter dem Markt in der Hanoi Road. (Er hatte sie nur angeschaut, nicht angefasst.) Ihr dichtes Fell war prachtvoll gemustert. Er streckte den Arm aus und ließ die Finger durch das weiche Haarkleid gleiten. Er wölbte die Hand schützend um ihr trauriges Gesicht. Der Ast hatte ihr das Genick gebrochen. Geung legte seine kalte Nase an ihre warme Schnauze und weinte.
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