»Vor allem wäre es mir lieb« – er senkte die Stimme -, »wenn Sie Ihrer Assistentin gegenüber Stillschweigen bewahren könnten.«
»Warum? Gilt sie jetzt schon als Sicherheitsrisiko?«
»Nicht … nein, sie … Bitte.«
»Ich werde mein Möglichstes tun. Haben Sie Neuigkeiten für mich?«
»Mehr, als ich erwartet hatte«, sagte der groß gewachsene Mann und nahm dem Doktor gegenüber Platz. Siri schenkte ihm aus der Thermoskanne eine Tasse Tee ein und ließ sie abkühlen.
»Ich habe soeben mit der Einwanderungspolizei in Hanoi gesprochen. Ich hatte gestern dort angerufen und die Namen Ihrer kubanischen Pfleger durchgegeben. Die Kollegen mussten sich durch riesige Aktenberge wühlen. Sie wissen ja, wie das ist. Wie es scheint, saß keiner der beiden Männer in der gebuchten Maschine. Genauer gesagt, gibt es nicht den geringsten Hinweis darauf, dass sie das Land überhaupt verlassen haben.«
»Aber sie wurden nach Hanoi gebracht?«
»Ja. Dort sind sie auch angekommen. Sie hatten eine Militäreskorte. Ich habe mit dem Fahrer gesprochen. Er erinnert sich genau.«
»Dann dürfen wir also annehmen, dass sie auf der Stelle kehrtgemacht und den Rückweg angetreten haben?«
»Ich weiß nicht. Wenn ja, müsste es jemandem aufgefallen sein. Ich habe meine Leute angewiesen, sich ein wenig umzuhören.«
»Gibt es etwas Neues über den vietnamesischen Oberst?«
»Sein Name war Ha Hung. Ich fürchte, die Ermittlungen haben sich totgelaufen – im wahrsten Sinne des Wortes. Drei Monate, bevor der Betonweg gegossen wurde, kam der Oberst ums Leben.«
»Unter welchen Umständen?«
»Ein Hinterhalt der Hmong.«
»Und was wurde aus seiner Tochter?«
»Keine Ahnung. Angeblich ging die Familie nach dem Tod ihres alten Herrn nach Vietnam zurück. Was die Suche nicht eben leichter macht.«
»Würden Sie es trotzdem probieren? Mir zuliebe?«
»Aber sicher. Sonst noch was?«
»Dr. Santiago wollte auf dem Weg zum Krankenhaus bei Kilometer 8 rasch hier vorbeischauen. Ich habe ihn gebeten, einen Blick auf unsere Mumie zu werfen. Vielleicht erkennt er den Mann ja wieder.«
»Hmm. Nach allem, was von ihm noch übrig ist, wird ihn wohl auch der große Dr. Santiago nicht identifizieren können. Er ist vermutlich ohnehin zu sehr damit beschäftigt, blutjungen Mädchen nachzusteigen, die ohne Weiteres seine Enkelinnen sein könnten.« Siri bemerkte den hasserfüllten Unterton durchaus, doch sein Interesse war zu gering, um der Sache auf den Grund zu gehen. Lit blickte sich um. »Mir ist aufgefallen, dass Schwester Dtui nicht an unseren letzten beiden Lagebesprechungen teilgenommen hat. Das hängt doch hoffentlich nicht damit zusammen, dass ich ihr neulich den Kopf gewaschen habe?«
»Ich will es mal so sagen, mein Junge. Man mag einen Gibbon domestizieren können, indem man ihm immer wieder mit dem Hammer auf den Schädel schlägt, Menschen hingegen reagieren auf eine Gehirnerschütterung im Allgemeinen allergisch.«
»Zu meinen Aufgaben gehören auch Bildung und Erziehung.«
»Man haut den Leuten eine Philosophie nicht um die Ohren, junger Mann. Man macht sie nach und nach damit vertraut.«
»Sie meinen, ich habe das nötige Feingefühl vermissen lassen?«
»Ich sage das nur ungern, aber Sie scheinen mir ein treuer Anhänger der Knüppel-aus-dem-Sack-Methode zu sein. Lassen Sie es künftig etwas ruhiger angehen, dann stellt sich der Erfolg von selbst ein.«
»War Schwester Dtui verärgert? Ist sie deshalb nicht hier?«
»Dtui hat ein weitaus dickeres Fell, als Sie glauben. Nein, sie hilft bei Kilometer 8 aus, bis die kubanischen Ärzte eintreffen.«
»Sie ist eine bemerkenswerte Frau.«
Siri war erstaunt. »Ich dachte, Sie könnten sie nicht leiden.«
»Im Gegenteil, Doktor. Ich war von Anfang an mehr als beeindruckt. Zugegeben, es mangelt ihr an Disziplin, aber …«
Siri wartete darauf, dass auf das »aber« etwas folgen würde, aber es blieb folgenlos. »Ich werde es ihr ausrichten, wenn ich sie heute Nachmittag sehe.«
»Sie fahren hinaus zu Kilometer 8?«
»Mit Dr. Santiago. Ich möchte mir das Quartier der Kubaner ansehen und mich ein wenig umhören.«
»Und wenn Sie etwas Neues in Erfahrung bringen, geben Sie mir umgehend Bescheid?«
»Selbstverständlich.«
»Die Zentralregierung war alles andere als erfreut, als sie hörte, dass es sich bei dem Opfer eventuell um einen Kubaner handelt. Die kubanische Delegation möchte den Fall so schnell wie möglich klären. Zu dem Konzert wird auch ein Politbüromitglied aus Havanna anreisen. Bis dahin sähe ich den Täter gern hinter Gittern. Am besten schaue ich heute Abend noch einmal vorbei, dann können Sie mir berichten, was Sie herausgefunden haben.«
»Eigentlich wollte ich über Nacht dortbleiben.«
»Warum?«
»Ach, ich wollte Schwester Dtui ein wenig zur Hand gehen, außerdem kann ich dort vielleicht endlich mal wieder ruhig schlafen. Seit ich hier bin, werde ich jede Nacht von dieser verfluchten Diskothek geweckt.«
Lit lachte. »Doktor, wir sind in Vieng Xai.«
»Und?«
»Und seit die Parteiführung nach Vientiane umgezogen ist, schwingt hier niemand mehr das Tanzbein. Darum ist das Konzert nächste Woche ja so ein Großereignis.«
»Genosse Lit. Ich höre die Musik. Ich spüre die Vibrationen der Lautsprecher.«
»Vielleicht ist es ein Radio oder Plattenspieler. Was für Musik ist es denn?«
»Dieser nervtötende amerikanische Mist. Zu dem sie in den Nachtclubs der Hotels früher herumgehopst sind.«
»Ich werde mich darum kümmern, Doktor. Wir wollen schließlich nicht, dass unsere Jugend sich von dekadentem Westpop korrumpieren lässt. Aber glauben Sie mir, Dr. Siri, in Vieng Xai hat es noch nie eine Diskothek gegeben, und wenn es nach mir geht, wird das auch so bleiben.«
Wie es sich für einen tollkühnen Helden gehört, hielt Dr. Santiago mit quietschenden Bremsen vor Kilometer 8 und entstieg seinem gelben Jeep in eine dichte Staubwolke gehüllt. Die erschöpften Schwestern und Pfleger kamen aus dem Haus und nahmen ihn mit einem Seufzer der Erleichterung in Empfang. Nur Dtui kannte den kleinen weißhaarigen Mann auf dem Beifahrersitz. Während sich das übrige Personal um Santiago scharte, schlenderte sie zu Dr. Siri.
Sie sah reichlich mitgenommen aus. »Na, wie läuft’s, Schwester?«, fragte er lächelnd.
Sie stieß ein verzweifeltes Lachen hervor. »Seit wie vielen Jahren machen Sie das schon?«
Siri kletterte aus dem Jeep und wischte sich mit einem alten Handtuch den Staub aus dem Gesicht. »Ab dem siebzehnten Jahr wird es allmählich leichter.«
»Heute ist mein zweiter Tag, und ich bin ein Wrack.«
Auf dem Weg in die Station fasste Siri die Ereignisse der vergangenen beiden Tage kurz zusammen. »Santiago ist sich anscheinend ziemlich sicher, dass es sich bei dem Toten um Odon, den kleineren der beiden Pfleger, handelt.«
»Haben Sie ihn nach den parallelen Narben gefragt?«
»Ich habe sie ihm gezeigt, und er machte ein – wie soll ich sagen? – nicht direkt ängstliches, aber doch recht finsteres Gesicht. Sie dürfen nicht vergessen, dass wir uns nicht verständigen können, darum freue ich mich schon auf Ihre Übersetzung. Und jetzt frisch ans Werk. Was liegt an?«
Siri und Santiago waren ein erstklassiges Gespann. Dtui folgte ihnen auf ihrem Rundgang und assistierte ihnen bei vier Operationen. Bei ihnen sah alles so leicht, so einfach aus. Gegen acht waren sämtliche Patienten versorgt, und das Personal saß um einen großen Tisch und aß gebratenen Lemur mit Klebreis. Da Santiago über den Mord erst sprechen wollte, wenn die drei allein waren, erzählte Dtui ihnen einstweilen die Geschichte von Frau Wunderlich. Die beiden Chirurgen fanden den Fall so faszinierend, dass sie in Frau Duanings Zimmer gingen, kaum dass sie den letzten Bissen verschlungen hatten. Der Anblick der totenbleichen alten Dame betrübte Dtui über die Maßen. Sie sprach noch immer mit geliehener Stimme, doch da sie kaum Luft bekam, brachte sie die Worte nur schwer über die Lippen. Um überhaupt etwas verstehen zu können, mussten sich die drei über sie beugen. Ihr Atem stank nach Fäulnis und Zerfall.
Читать дальше