»Ja«, sagte Siri.
»Schnell, kommen Sie mit.« Ohne eine Antwort abzuwarten, machte er auf dem Absatz kehrt und stürzte, immer vier Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Siri wusste aus langjähriger Erfahrung, dass die zehn Sekunden, die sich mit solch übertriebener Hast gewinnen ließen, nur selten etwas bewirkten, es sei denn das vorzeitige Ableben sowohl des Arztes als auch des Patienten. Und so nahm er gemächlich eine Stufe nach der anderen. Die aufgebrachte Wache kam ihm auf halber Treppe entgegen.
»Beeilen Sie sich«, sagte der Mann. »Es geht um Leben und Tod.« Bei aller Dringlichkeit hatte er es sich nicht nehmen lassen, die Tür im ersten Stock wieder zu verriegeln, bevor er Siri holen gegangen war. Mit zitternden Händen versuchte er den Schlüssel in das Vorhängeschloss zu manövrieren. Siri war eben auf dem Treppenabsatz angekommen, als der Mann die erste Tür aufriss und über den Flur zu einer zweiten, ebenfalls verschlossenen Tür lief. Siri fragte sich, was für eine wilde Bestie solche Vorsichtsmaßnahmen erforderlich machte. Als er am ersten Zimmer vorbeikam, warf er einen Blick durch die offene Tür. Auf einem der beiden Betten lagen drei allem Anschein nach recht teure Lederkoffer. Auf dem Fußboden standen ein Tablett mit Jungpflanzen und kleine Tontöpfe mit Stecklingen.
»Hier drin«, rief die Wache. »Noch ist er am Leben.«
Auf dem einzigen Bett im Nebenzimmer lag ein Mann mittleren Alters mit pomadiertem Haar und einem schlichten, aber teuren Pyjama. Er wand sich vor Schmerzen und hatte Schaum vor dem Mund. Auf dem Boden neben dem Bett lag eine umgestürzte braune Glasflasche. Das Etikett trug eine russische Aufschrift, doch das allgemeinverständliche Totenkopfsymbol ließ an ihrem Inhalt keinen Zweifel. Siri hob die Lider des Mannes und schaute ihm in die Pupillen. Dann öffnete er ihm den Mund, um sich seine Zunge anzusehen, und schnupperte an seinem Atem.
»Nachdem die Polizisten weg waren, sind die Zimmer sauber gemacht worden. Das blöde Miststück muss den Reiniger auf dem Waschbecken stehen gelassen haben. Keine Ahnung, wie er an das Zeug gekommen ist. Er hat es sich wahrscheinlich auf dem Rückweg vom Klo geschnappt, als ich kurz nicht hingesehen habe. Blödes Arschloch. Wenn was passiert, werde ich erschossen.« Schimpfend lief der Wachposten im Zimmer auf und ab. »Krankenhaus! Wir müssen ihn ins Krankenhaus schaffen! Sie kriegen ihn doch wieder hin, Doc. Oder, Doc?«
»Hören Sie, Genosse«, sagte Siri und sah die hysterische Wache an. »Solange Sie hier herumtrampeln wie ein wild gewordener Kapitalist, kann ich gar nichts tun. Sie gehen jetzt hinunter in die Küche und sagen den Damen, sie sollen zwei Liter Wasser zum Kochen bringen und eine Handvoll Salz sowie dreißig Zentiliter Speiseöl hineingeben. Ich will Sie hier erst wiedersehen, wenn alles so weit ist.«
»Jawoll.« Die Wache verließ ihren Posten und eilte in die Küche. Der Vergiftete auf dem Bett wand sich immer noch vor Schmerzen.
»Schon gut«, sagte Siri. »Er ist weg. Sie können jetzt aufhören.«
Der Mann hielt einen Sekundenbruchteil inne, dann drang ein heiseres Knurren aus den Tiefen seiner Kehle. »Kran-ken-haus.«
»Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass das nicht in Frage kommt.«
»Ster-be.«
»Ich bitte Sie. Sie liegen ebenso wenig im Sterben wie ich. Ich sehe wahrscheinlich nicht halb so gesund aus wie Sie. Was wollten Sie mit dieser kleinen Maskerade eigentlich erreichen?«
Der Mann spuckte den restlichen Schaum aus und funkelte Siri wütend an. »Wer, zum Teufel, sind Sie?«
»Dr. Siri Paiboun.«
»Nicht zu glauben. Dass einem ausgerechnet hier ein Arzt über den Weg läuft.« Kopfschüttelnd setzte er sich auf.
»Kompliment. An Ihnen ist ein Schauspieler verloren gegangen. Ein Laie hätte wohl kaum Ihren Atem kontrolliert und den Zahnpastageruch folglich auch nicht bemerkt. Das Personal hätte Sie vermutlich auf einen Lastwagen verfrachtet und Sie in die Klinik nach Xam Neua gefahren. Trotzdem ist mir immer noch nicht ganz klar, was Sie sich davon versprochen haben.«
»Nein? Das kann ich Ihnen gern verraten. In einem Krankenhaus gibt es keine Wachleute. Ich hätte mich heimlich davonstehlen können.«
»Und wohin, wenn ich fragen darf?«
»Was weiß denn ich? Nach Süden? In einem gestohlenen Wagen?«
»Ihnen ist offensichtlich nicht bewusst, wo Sie hier sind. Es führt nur eine Straße nach Vientiane, vorbei an gut hundert Lagern der PL und der Vietnamesen. Sind Sie wirklich so lebensmüde?«
»Lieber sollen sie mich erschießen, als dass ich mich von Ihren Leuten langsam zu Tode foltern lasse.«
»Wie kommen Sie darauf, dass wir Sie zu Tode foltern wollen?«
»Ich bin doch nicht bescheuert. Ich weiß, wie es in euren Lagern zugeht. Zwangsarbeit unter primitivsten Bedingungen, keinerlei ärztliche Betreuung.«
»Ich habe dreißig Jahre unter solchen Bedingungen gelebt. Wenn ich das geschafft habe, schaffen Sie das schon lange.«
»Sie wissen anscheinend nicht, wer ich bin.«
»Ich weiß sogar sehr gut, wer Sie sind. Aber das ist keine Antwort auf meine Frage.«
Der Mann sah kopfschüttelnd aus dem Fenster. »Ich musste mich noch nie auf eigene Faust durchschlagen. Beim leisesten Schniefen wurde ich mit Medikamenten vollgepumpt. Ich habe keine natürliche Immunität, keine Kondition, kein Durchhaltevermögen.«
»Sie würden sich wundern, wie schnell sich Ihr Körper anpasst.«
»Nein. Das wäre mein sicherer Tod. Hundertprozentig. Hören Sie. Sobald er Ihren absurden Auftrag ausgeführt hat, kommt der Wachposten zurück. Was halten Sie davon, wenn Sie und ich eine kleine … Abmachung treffen?«
»Doch nicht etwa finanzieller Natur?«
»Ich verfüge über mehr Geld, als Sie sich überhaupt vorstellen können. Wenn Sie mich nach Thailand schaffen würden, könnte ich …«
»Und was sollte ich mit dem Geld anfangen?«
»Anfangen? Na, was wohl? Sich ein angenehmes Leben machen. Ihre Freiheit genießen.«
Siri lachte. »Mit Verlaub, aber in Ihrer mehr als misslichen Lage sind Sie nicht eben ein leuchtendes Beispiel für die Kombination von Reichtum und Freiheit. Trotzdem, den Versuch war es wert, mein Junge. Sie sind ganz anders als Ihr Vater.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Wir kennen uns. Wir haben eine ganze Nacht zusammen Reiswhisky getrunken und über Philosophie gesprochen. Ich bin in meinem Leben nicht allzu vielen königlichen Hoheiten begegnet, aber Ihr Vater hat mich tief beeindruckt. Im Gegensatz zu Ihnen schien er sich mit seinem Schicksal abgefunden zu haben.«
»Er ist ein Defätist.«
»Er ist ein Realist. Er war hier, nicht wahr? Und die Königin?«
»Sie wurden gestern Abend fortgebracht. Haben Sie das Zimmer gesehen, in dem sie hausen mussten? Entwürdigend. Wer weiß, was sie da draußen im Dschungel erwartet.«
»Sie haben Angst.«
»Seien Sie nicht albern.«
»Sie brauchen sich deswegen nicht zu schämen. Angst hilft uns zu überleben. Ich habe länger in Angst gelebt als in Ruhe und Frieden. Trotzdem stehe ich hier. Schlagen Sie sich diese albernen Fluchtgedanken aus dem Kopf, mein Junge. Damit helfen Sie weder sich selbst noch Ihrer Familie. Spielen Sie mit, und halten Sie sich an die Regeln. Suchen Sie sich einen hohen Baum, einen Baum, der sämtliche Staatsstreiche und Massaker der Geschichte überdauert hat. Heben Sie an seinem Fuß ein Loch aus, und begraben Sie Ihren Stolz darin. Übergeben Sie diesem majestätischem Baum Ihr ganzes königliches Erbe, und dann fügen Sie sich ihrem Willen, und werden Sie zu einem einfachen, bescheidenen Menschen. Erdulden Sie die Erniedrigungen, die sie Ihnen zufügen werden, und imponieren Sie ihnen mit Ihrer Willenskraft. Beeindrucken Sie sie mit Ihrer Demut und Ergebenheit. Denn genau das werden der König und die Königin tun.«
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