»Das … das kann ich nicht.«
»Natürlich können Sie das. Und es wird eine tiefere und anhaltendere Wirkung zeitigen als all die Bravourstücke und Heldentaten, all das königliche Getue, das Sie im Sinn haben. Beweisen Sie ihnen, dass Sie ein Mensch mit Charakter sind. Denn das wird sie in Verlegenheit bringen. Für einen Tyrannen gibt es wenig Unerfreulicheres als einen Mann, der sich nicht schrecken lässt.«
Siri hob die Flasche auf. Der Kronprinz starrte mutlos vor sich hin. »Warum haben sie uns getrennt?«
»Um Ihren Willen zu brechen. Sie haben doch nicht wirklich davon getrunken, oder?«
»Die Flasche war leer.«
Siri lachte. »Sehen Sie? Sie sind doch ein findiges Bürschchen. Sie würden hundert Umerziehungslager überleben.«
Der Wachposten stürzte ins Zimmer. Er hielt die mit Lappen umwickelten Griffe des dampfenden Kochtopfs fest umklammert. Das gesamte Küchenpersonal folgte ihm auf dem Fuße.
»Fertig«, sagte die Wache. »Was soll ich damit machen?«
»Kippen Sie es in die Toilette«, antwortete Siri. »Oder, noch besser, kochen Sie uns darin zum Abendessen leckeres Gemüse.«
»Was? Aber Sie haben doch …«
»Wie es scheint, habe ich ein medizinisches Wunder vollbracht und den Prinzen wieder zum Leben erweckt. Wir werden ihn wohl doch nicht in Öl sieden müssen. Er erfreut sich bester Gesundheit.«
»Danke. Danke, Doc. Vielen Dank«, murmelte der Wachposten wohl an die hundert Mal. Der Dank galt selbstredend der Rettung seiner eigenen Haut. Das Wohlergehen seines königlichen Schützlings interessierte ihn nicht die Bohne.
Bevor Siri aus dem Zimmer ging, sah er die Bambus- klui auf dem Schreibtisch. »Ah, da haben wir sie ja, die Waffe, die uns seit unserer Ankunft solche Qualen bereitet. Kennen Sie nur die eine Melodie?«, fragte er.
»Und nicht einmal die beherrsche ich richtig.«
»Wenn wir uns das nächste Mal begegnen, werden Sie die tausend Melodien des Dschungels spielen, und die Vögel des Waldes werden Sie darum beneiden. Denken Sie an meine Worte.« Er legte dem Prinzen die Hand auf die Schulter und sah ihn lächelnd an. »Grüßen Sie Ihren Vater von mir, wenn Sie ihn sehen. Er ist ein beeindruckender Mann – mit einem beeindruckenden Sohn.«
Herr Geung hatte die bewaldeten Berghänge hinter sich gelassen und kam zum ersten Mal auf seiner Wanderung in ein Tal voller Reisfelder. Die Reisstoppeln knirschten unter seinen Füßen. Alles schien vertrocknet und tot. Die Politik hatte das Land buchstäblich ausgedörrt. Seit der Revolution mussten die Pathet Lao Monat für Monat die schmerzliche Erfahrung machen, dass es in der Praxis weitaus schwieriger war, ein Land zu regieren, als es in der Theorie ausgesehen hatte. Zehn Jahre lang hatten sie in den Höhlen von Houaphan davon geträumt, an die Macht zu gelangen. Doch da nur wenige Kader wirklich glaubten, dass dieser Traum eines Tages in Erfüllung gehen würde, hatten sie weder konkrete Pläne für die Zukunft entwickelt noch Ideen, wie sie die Massen für sich gewinnen könnten. Nichts war einem gelungenen Volksaufstand abträglicher als die Existenz echter Menschen und der Druck, deren überzogene Ansprüche zu befriedigen.
Das laotische Volk des Jahres 1977 wurde allmählich unruhig. Es hatte den neuen Machthabern ein Jahr Zeit gegeben, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, doch die Erfolge blieben aus. Manche Leute verstiegen sich sogar zu der Behauptung, die Kommunisten seien nicht besser als die Royalisten. Im Politbüro hatte der blinde Rausch des Sieges einer ungesunden Paranoia Platz gemacht, und die daraus resultierenden Maßnahmen stießen in der Bevölkerung auf zunehmenden Widerstand. Feste wurden entweder abgesagt oder aber strengen Auflagen unterworfen, um Massenaufläufe zu verhindern. Religion, Kultur und Aberglaube waren verpönt, wodurch sich die Zahl der feierlichen Anlässe beträchtlich reduzierte. Dr. Siri meinte, ebenso gut könne man den Leuten gestatten, eine Brille zu tragen, die Verwendung von Brillengläsern jedoch unter Strafe stellen.
Auch das Raketenfest im Mai war dieser Regelung zum Opfer gefallen, denn Horden aufgebrachter Dorfbewohner, die noch dazu mit Unmengen von Schwarzpulver hantierten, konnten die Behörden unter keinen Umständen dulden. Die Regierung verbot Versammlungen innerhalb geschlossener Ortschaften und verbannte sämtliche Feierlichkeiten auf abgelegene Felder, die sowohl von Uniformierten als auch von schlecht getarnten Soldaten in Zivil überwacht wurden. Weiblichen Geistermedien, eigentlich unabdingbar für das Fest, hatte man die Teilnahme streng untersagt. Alkohol und laute Musik waren tabu, und bei Einbruch der Dunkelheit mussten die Festlichkeiten beendet sein. Die Pulvermenge, mit denen die Bambusrohre gefüllt werden durften, war so gering, dass viele selbstgebaute Raketen kaum vom Start wegkamen. Sie schraubten sich torkelnd ein paar Meter in die Höhe, bevor sie verglühten und zur Erde stürzten. Jubelrufe waren kaum zu hören, dafür umso häufiger die panischen Schreie von Zuschauern, die Hals über Kopf das Weite suchten.
Nicht nur stieß das Debakel den enttäuschten Dorfbewohnern sauer auf, es hatte noch viel weitreichendere Folgen. Das Raketenfest war ein Fruchtbarkeitsritus. Der ohrenbetäubende Lärm und die ausgelassene Fröhlichkeit sollten die Götter der Wollust aus ihrem einjährigen Schlummer reißen. Die Geistermedien mahnten die derart unsanft geweckten höheren Wesen, dass es an der Zeit sei, den Regen zu schicken und die Felder zu begrünen. Die phallischen Raketen sollten sie zu einer himmlischen Orgie animieren, auf dass ihre Lendensäfte das Land befruchteten und reiche Ernte brachten.
Das war der feste Glaube der Dorfbewohner. In den kalten Sozialistenherzen der neuen Machthaber war für solch mythologischen Unfug naturgemäß kein Platz. Die marxistisch-leninistische Lehre hatte keine Zeit für Märchen. Buddhismus und Animismus waren Sünden wider das rationale Denken, und dem kommunistischen System ging Logik über alles. Sie würden schon sehen, diese Einfaltspinsel. Im Mai würde wie immer der Regen kommen und den Glauben des Volkes an die sozialistische Ordnung stärken.
Die müden Feierlichkeiten zum 1. Mai trafen auf denselben gebremsten Enthusiasmus wie das Raketenfest. Aus Mai wurde Juni, und die Fruchtbarkeitsgötter lagen immer noch in tiefem Schlummer. Kein Wölkchen trübte den Himmel, die Reisfelder verdorrten, und im Erdboden taten sich tiefe Risse auf. Als der Juli kam, hatten die Leute keinen Zweifel mehr, dass diese noch nie da gewesene Dürre auf das Konto der neuen Regierung ging. Der Sozialismus war schlecht fürs Wetter. So viel war selbst dem schlichtesten aller schlichten Gemüter klar. Sämtliche Versuche der Regierung, den Widerstand in der Bevölkerung zu brechen, hatten das genaue Gegenteil bewirkt.
Herr Geung wusste von all dem weiter nichts, als dass die Reisstoppeln unter seinen Füßen knirschten, doch in seinen neuen Stiefeln kam er gut voran. Sie hatten dem Mann der alten Dame gehört, der in seiner Urne damit vermutlich wenig anfangen konnte. Ihrem Sohn waren sie zu klein, Geung hingegen passten sie wie angegossen, und er trug sie voller Stolz. Sie hatte ihm ein großes Paket Trockenproviant mitgegeben und ihn mit einer stinkenden Salbe eingerieben, die ihm die bösartigen, mit dem Dengue-Bazillus infizierten Stechmücken vom Leibe halten sollte, die das Land unsicher machten.
»W… wir sollen der St… St… Straße folgen«, erklärte er Dtui, die neben ihm her ging. »A… aber so, dass uns k… keiner sieht.« Beim Frühstück hatte die alte Frau ihm seine Geschichte aus der Nase gezogen und ihn gewarnt, dass die Soldaten, denen er entwischt war, todsicher nach ihm suchen würden.
»Bleib in der Nähe der Straße, aber pass auf, dass dich niemand sieht«, hatte sie ihm eingeschärft. »Wenn von hinten ein Auto kommt, das nicht grün ist wie ein Militärfahrzeug, lass dich mitnehmen. Halte dich von allem fern, was grün ist. Kapiert?«
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