Wie schon an den vorangegangenen beiden Tagen schrak Herr Geung in panischem Entsetzen aus dem Schlaf. Doch während er sich die ersten beiden Male im Kreise der Soldaten wiedergefunden hatte, lag er nun in eine Zeltplane gewickelt, wie Schweinefleisch in einer chinesischen Frühlingsrolle. Er trat und schlug verzweifelt um sich, konnte sich aber nicht daraus befreien. Sein Verstand versagte ihm den Dienst. Er konnte sich beim besten Willen nicht entsinnen, wo er war und wie es ihn dorthin verschlagen hatte. Und obwohl es die Sache auch nicht besser machte, fing er an zu weinen.
»Würden Sie mir freundlicherweise verraten, was Sie in meiner Abdeckplane treiben?« Die Stimme gehörte einer alten Frau, so viel stand fest. Die er durch die Öffnung am oberen Ende seiner Frühlingsrolle allerdings nicht sehen konnte.
»Ich … ich weiß nicht«, sagte er unter Tränen. Er spürte, wie jemand an seinem Kokon zerrte, dann plötzlich rollte er über den Boden, bevor er schließlich aus der Plane auf die trockene Erde geschleudert wurde. Eine ältere Frau und zwei kichernde Kinder sahen auf ihn herab.
»Er ist ein Dummkopf, Großmutter.«
»Allerdings«, bestätigte die Alte. »Was willst du hier, Dummkopf?«
»Ich w… weiß nicht«, antwortete Geung wahrheitsgemäß.
»Dann rufe ich jetzt die Polizei und lasse dich festnehmen«, sagte sie.
»Ist g… g… gut.«
»Oder soll ich lieber meine Flinte holen und dich vom Hof jagen?«
Geung sann über ihre Worte nach. »A… a… a… auch keine schlechte Idee.«
Die Alte lachte. Ihr betelnussbefleckter Mund erinnerte ihn stark an diverse übel zugerichtete Fälle aus dem Leichenschauhaus. »Eh. Du bist wirklich verrückt, Junge. Wie soll ich dir drohen, wenn du mit allem einverstanden bist? Woher kommst du?«
»Thangon.«
»Nie gehört.«
»Tut mir leid. Aber ich m… m… muss nach Vientiane.« Er rappelte sich hoch, lächelte den Kindern zu und marschierte wunden Fußes los.
»Warte. Bleib stehen«, sagte die Alte. »Du willst doch nicht etwa zu Fuß nach Vientiane?«
»Ich ha… ha… hab’s versprochen.«
»Was du nicht sagst. Hast du Hunger, Junge?«
»Ja.«
»Tja, da brauchst du ordentlich was zwischen die Rippen, sonst kommst du dein Lebtag nicht bis nach Vientiane. Und was...«
»Ja. Jetzt weiß ich’s wieder.«
»Was?«
»Die Mü… Mü… Mücken. Ich hab mich eingerollt, damit mich die Mü… Mü… Mücken nicht stechen können. D… D… Denguefieber. Genossin Dtui hat gesagt, man muss sich schützen gegen die Mü… Mü… Mü… Mü…«
»MÜCKEN!«, riefen die beiden Mädchen im Chor.
»Ja.« Er lächelte ihnen zu, und sie kicherten zurück.
»Na schön«, meinte die Alte. »Jetzt isst du erst mal was und erzählst uns in aller Ruhe deine Geschichte, bevor du dich auf deinen langen Marsch machst. Vielleicht finde ich ja auch noch ein Töpfchen von meiner selbst gemachten Paste, die hält dir die Mücken todsicher vom Leib. Sie reicht für eine Woche, solange du dich zwischendurch nicht wäschst.«
»Danke, Madame«, sagte er, legte die Handflächen aneinander und deutete einen höflichen nop an.
»Also, ich weiß ja nicht, woher du kommst und was du im Schilde führst, aber Manieren haben sie dir beigebracht.« Sie betraten ihre aus massivem Holz gebaute Hütte. Hier wohnte der Verwalter der Kiefernschonung, durch die Geung am ersten Tag seiner Flucht gewandert war. »Setz dich erst mal und zieh deine Plastikschuhe aus. Wenn du damit bis nach Vientiane läufst, bist du nämlich nicht nur ein Dummkopf, sondern auch ein Krüppel.«
»Danke, M… M…«
»MADAME!«, schrien die Kinder, als sei der Zirkus in der Stadt.
»Mutter«, sagte Geung und grinste die Mädchen mit schiefen Zähnen an.
Dtuis erster Arbeitstag im Krankenhaus bei Kilometer 8 verlief chaotisch. Sie konnte nichts dafür. Chaos war dort der Normalzustand. Schon nach einer Stunde hatte sie alle Hoffnung fahren lassen. Von den sechs Pflegern und Schwestern hatten zwei keinerlei medizinische Kenntnisse. Der erfahrenste Pfleger hatte ein halbes Jahr in einem Feldlazarett in Vietnam gearbeitet. Mit ihrer zweijährigen Schwesternausbildung avancierte Dtui im Nu zu ihrer Generalstabsärztin. Sie überließen ihr sämtliche Entscheidungen und fügten sich gehorsam ihrem Urteil. Dtuis Vertrauen in ihre Entscheidungsfähigkeit war nicht allzu groß. Sie hatte sich noch nie in einer so aussichtslosen Lage befunden.
Die meisten der rund fünfzig Patienten waren bombi -Opfer. Die bombi war mit das grausamste aller heimtückischen Kriegswerkzeuge. Flieger warfen mit baseballgroßen bombis gefüllte Behälter ab. In der Luft öffneten sich die Behälter, und die bombis regneten auf das Angriffsziel herab. Beim Aufprall explodierten sie, und zweihundertfünfzig glühend heiße Kugellager flogen nach allen Seiten und zerfetzten Menschen und Gebäude gleichermaßen. Manche bombis waren mit einem Verzögerungszünder ausgestattet und töteten die Überlebenden, die ihre Lieben retten wollten. Wieder andere lauerten Tage, Wochen, Monate oder gar Jahre im Verborgenen, bis sie den Unschuldigen und Unwissenden eine tödliche Überraschung bereiteten. Die bombi kümmerte es nicht, wer ihnen zum Opfer fiel. Ob es einen Büffel oder ein Schwein, ein Kind oder eine junge Mutter beim Reispflanzen erwischte, spielte keine Rolle. Die bombi rissen sie alle in den Tod.
Jeden Tag wurden neue Opfer eingeliefert, denen man die verstümmelten Glieder abgebunden hatte, um den Blutfluss zu hemmen. Sie kamen auf Ochsenkarren, auf Ponys, auf Tragen, die ihre Verwandten kilometerweit gezogen hatten. Das Krankenhauspersonal verabreichte ihnen Unmengen von Opium, um alle, gute wie schlechte, Empfindungen zu unterdrücken. Und es versorgte die Wunden, so gut es ging. Den meisten Patienten konnte nicht geholfen werden. Sie hatten zu viel Blut verloren oder waren zu schwer verletzt, um sie am Leben zu erhalten. Viele andere bewahrte allein ihr eiserner Überlebenswille vor dem sicheren Tod. Alle paar Tage kam Dr. Santiago vorbei, amputierte, was nicht mehr zu retten war, und vollbrachte wahre Wunder, um den Menschen eine zweite Lebenschance zu schenken.
Im Kilometer 8 gab es keine Schichten. Es wurde Tag und Nacht gearbeitet, und die Schwestern und Pfleger schliefen nur, wenn ausnahmsweise einmal Ruhe einkehrte. Sie kochten für diejenigen Patienten, deren Verwandte nicht auf der Station campierten. Sie pumpten sie mit einem Schmerzmittel voll, von dem sie wussten, dass es süchtig machte, und schleppten die Verstorbenen die Böschung hinauf zur Totenhöhle, einem Krematorium am Fuß des Berges. Am Ende ihres schier endlosen ersten Tages hatte Dtui nach eigener Schätzung gut vier Kilo abgenommen. Singsai, der dienstälteste Sanitäter, meinte, in spätestens vier Wochen werde sie so dünn sein, dass man sie problemlos bei den Mopps in der Besenkammer unterbringen könne. Diese Vorstellung gefiel ihr.
Es war ein verhältnismäßig guter Tag gewesen. Nur eine Frau hatte die Reise in die Totenhöhle angetreten. Dtui war es gelungen, einem zehnjährigen Kind – vorerst – das Leben zu retten, und um zwei Uhr morgens sanken die Insassen von Kilometer 8 vom Opium berauscht in hoffentlich erholsamen Schlaf. Dtui und Singsai saßen vor dem Hauptkrankensaal, der das Gebäude der Länge nach durchzog. Da sie zum Schlafen zu erschöpft waren, sahen sie zu den Sternen hinauf, die sich so selten am Nordosthimmel zeigten, dass der Sanitäter ihr jetziges Erscheinen als Omen sah.
»An Tagen wie heute wird einem bewusst, wie dumm man eigentlich ist«, sagte Dtui.
»Sie sind ganz und gar nicht dumm, Schwester«, versicherte Singsai. Er war ein kleiner Mann mit einer Haut von derart dunklem Braun, dass seine Stimme aus einem strahlend weißen Gebiss zu kommen schien, das schwerelos in der Dunkelheit schwebte. Er erinnerte Dtui an die Mumie im Haus des Präsidenten.
Читать дальше