»Während der Bauarbeiten«, übersetzte Dtui weiter, »wurden die Verwundeten hier und da in provisorischen Höhlen verarztet. Isandro und Odon taten dort als Chefkrankenpfleger Dienst. Als das Lazarett bei Kilometer 8 schließlich fertig war, wurden sämtliche Patienten dorthin verlegt. Nachdem die beiden ihre vier Jahre hinter sich hatten, meldeten sie sich freiwillig zu einem zweiten Einsatz. Das war anscheinend ziemlich ungewöhnlich. Die meisten Kubaner wollten so schnell wie möglich zurück nach Hause. Aber die beiden waren fleißig und hatten sich mit den Einheimischen angefreundet. Sie hatten Laotisch gelernt und sogar Geschmack an der hiesigen Küche gefunden«, sagte sie und setzte vorsichtshalber hinzu: »Auch wenn ich dafür nicht die Hand ins Feuer legen würde.«
Siri ignorierte ihren Warnhinweis. »Und warum wurden sie dann vorzeitig nach Hause geschickt?«, fragte er.
Es dauerte eine Weile, bis sich Dtui und der alte Kubaner einig waren.
»Wie es scheint«, sagte Dtui, »gab es Beschwerden.«
»Von wem?«
»Ein ranghoher Offizier der vietnamesischen Armee behauptete, einer der beiden, Isandro, habe seiner Tochter Avancen gemacht. Er nahm kein Blatt vor den Mund: Wenn er den Mann noch einmal in ihrer Nähe erwische, werde er ihn erschießen.«
»Und das hat Dr. Santiago ihnen mitgeteilt?«
»Ja. Aber die beiden setzten sich einfach über ihn hinweg. Sie sagten, sie hätten keine Angst, weder vor ihm noch vor dem Oberst. Er konnte es nicht fassen. Die Lage spitzte sich zu. Und da der Doktor nicht die Absicht hatte, seine Leute von einem wild gewordenen Vietnamesen abknallen zu lassen, nur weil sie mit seiner Tochter geschäkert hatten, blieb ihm nichts anders übrig, als sie nach Hause zu schicken.«
»Und er ist hundertprozentig sicher, dass sie diesem Befehl gefolgt sind?«
»Hundertprozentig.«
»Und es gibt nicht zufällig ein anderes kubanisches Projekt, das dunkelhäutige Kubaner als vermisst gemeldet hat?«
»Er sagt, es war das einzige kubanische Projekt in dieser Gegend.«
»Könnten Sie Dr. Santiago vielleicht bitten, mir Isandro zu beschreiben?«
Wieder steckten Dtui und der kubanische Arzt die Köpfe zusammen.
»Wenn ich richtig verstanden habe«, sagte Dtui, »war er ein Mann wie ein Baum – groß und breitschultrig wie ein amerikanischer Basketballspieler – und bärenstark.«
Siri zuckte die Achseln. Diese Beschreibung passte ganz und gar nicht zu seiner Betonleiche. Dtui erkundigte sich nach Odon.
»Das kommt schon eher hin«, sagte sie. »Odon war kleiner als Isandro. Dr. Santiago sagt, er war hässlich wie ein Ziegenbock, aber seinem Dauerlächeln konnte niemand widerstehen. Er sagt, es sei eher ungewöhnlich, dass die Eingeborenen – womit dann wohl auch Sie und ich gemeint sein dürften – mit dunkelhäutigen Ausländern verkehren, aber Odon und Isandro gaben sich alle Mühe, und die Leute gingen darauf ein. Dann sagte er noch etwas, das ich nicht ganz verstanden habe – ›die Einheimischen zum Narren halten‹ oder so, aber festlegen will ich mich da nicht.«
Siri hielt Odon für einen aussichtsreicheren Kandidaten als dessen groß gewachsenen Freund, aber da die beiden Laos angeblich längst verlassen hatten, schien er entweder anderswo suchen oder aber beweisen zu müssen, dass einer der Pfleger hiergeblieben war. Aus welchem Grund auch immer. Obwohl in einer Ecke des Büros ein gigantischer Kühlschrank stand, enthielt er auf den zweiten Blick nichts weiter als unzählige Kulturproben. Eine faszinierende Sammlung, darin waren sich alle einig, aber kaum geeignet, ihren Heißhunger zu stillen. Und so ließ Dr. Santiago seinen Papierkram bereitwillig Papierkram sein und lud seine Gäste in das neue Lao Houng Hotel zum Mittagessen ein. Ihr unerwarteter Besuch schien ihm buchstäblich neues Leben eingehaucht zu haben. Auf dem Weg zum Ausgang kam ihnen eine Pflegerin entgegen, die zu jung schien, um bereits ihr Schwesterndiplom in der Tasche zu haben. Siri sah, wie der alte Mann ihre Hand nahm und ihr einen reichlich unprofessionellen Schmatz auf die Wange gab. Obwohl das Mädchen errötete, wich es nicht zurück, wie junge Laotinnen es gemeinhin taten, wenn sie einen ungebetenen Kuss bekamen. Wie es schien, brannte in Santiagos Brust noch immer das alte lateinamerikanische Feuer.
Sie saßen unter riesigen Plakaten mit den Konterfeis ihnen unbekannter chinesischer Filmstars, verzehrten fades vietnamesisches Essen und machten sich über das neue Oz von Vieng Xai lustig. Zum Nachtisch tranken sie warmes, leicht aromatisiertes Bier, und Santiago wandte sich Dtui zu. Er erkundigte sich, ob sie eine diplomierte Krankenschwester sei. Als sie bejahte, fragte er ihren »Papa Siri«, ob er wohl ein oder zwei Tage auf sie verzichten könne. Anscheinend hatte man das Lazarett bei Kilometer 8 aus dem Bergesinnern in ein paar alte Häuser aus der französischen Kolonialzeit vor dem Höhleneingang verlegt. Es war zwar immer noch ein Krankenhaus, doch die dortigen Pflegekräfte hatten lediglich eine sechsmonatige medizinische Grundausbildung absolviert. Dr. Santiago erwartete noch vor Ende der Woche zwei kubanische Ärzte, aber bis dahin brauchte er jemanden, der die nötigen Entscheidungen fällen konnte. Zwar verbrachte der Doktor jede freie Minute dort, doch die Klinik bedurfte dringend einer ordnenden Hand.
Siri gab den Vorschlag an Dtui weiter. »Was meinen Sie?«
»Also, ich weiß nicht, ich bin doch nur eine kleine Krankenschwester.«
»Dtui, Sie sind weit mehr als eine kleine Krankenschwester. Detektiv spielen kann ich vermutlich auch allein – die Entscheidung liegt bei Ihnen. Für mich haben die Lebenden stets Vorrang vor den Toten. Aber wehe, Sie verraten das den Geistern.«
Sie fragte Santiago, ob sie sich darauf verlassen könne, dass die kubanischen Ärzte spätestens zum Wochenende da seien. Er gab ihr sein Ehrenwort. Sie erklärte sich bereit, ihm zu helfen, und übersetzte Siri ihren Entschluss.
»Sehr schön«, befand er. »Wenn ich Zeit habe, schaue ich vorbei und gehe Ihnen ein wenig zur Hand. Aber wie ich Sie kenne, haben Sie den Laden in null Komma nichts auf Vordermann gebracht. Und Dtui …?«
»Ja?«
»Ihnen ist hoffentlich klar, dass Sie es mit lebendigen Menschen zu tun haben. Nicht, dass Sie auf die Idee kommen, sie über Nacht in die Kühlkammer zu sperren.«
»Dr. Siri!«
»Pardon.«
Herr Geung war zum Laufen nicht gemacht. Er hatte Knickfüße und kurze Beine. Trotzdem war er fest entschlossen, zu Fuß nach Vientiane zurückzukehren. Zwar wusste er, dass es ein weiter Weg war, doch dass die Entfernung dreihundert Straßenkilometer betrug, wusste er nicht. Er hatte weder genügend Geld für eine Busfahrkarte in der Tasche noch auch nur die geringste Ahnung, wie sonst er sein Versprechen halten und ins Leichenschauhaus gelangen sollte. Und so schlenderte er, als die Soldaten eine Pinkelpause einlegten, unauffällig zum Ende des Konvois und starrte die Straße entlang, die sich durch die Berge schlängelte. Er holte tief Luft, genau wie der Doktor es ihm beigebracht hatte, und machte sich dann auf den Heimweg. Niemand bemerkte sein Verschwinden.
Schon nach fünf Minuten befand er sich allein auf der verlassenen Straße. Herr Geung war alles andere als ein Einzelkämpfer. Er brauchte die Gesellschaft und den Zuspruch anderer. Wenn man ihm sagte, was er zu tun hatte, war er unschlagbar, doch es fehlte ihm an Tatkraft und Unternehmungsgeist. Die Armeetransporter waren kaum verschwunden, als ihm dämmerte, dass er sich unmöglich allein auf diese weite Reise begeben konnte. Er brauchte einen Freund. Einen klugen Freund und Begleiter. Und als er den Kopf wandte, stand mit einem Mal, wie durch ein Wunder, Dtui hinter ihm. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Sie war die vernünftigste Frau, die er kannte, und würde ihn bestimmt sicher heim geleiten.
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