Obwohl er zu Tode erschöpft war, wälzte er sich auf seiner klumpigen Matratze auch in dieser Nacht schlaflos hin und her. Die Geister auf den Feldern riefen ihn. Unter ihnen befanden sich auch viele treuherzige junge Kader. Nach ihren Kämpfen mit den Hmong-Rebellen hatte er sie zu Hunderten zusammengeflickt. Und alle sagten sie dasselbe: »Schau uns an. Das haben wir nun davon. Und was hast du getan? Uns verarztet, damit wir von Neuem in die Schlacht ziehen konnten. Weiter nichts.« Sie hatten Recht. Aber das wollte er nicht hören. Er wollte schlafen, obgleich er wusste, dass er sich im Schlaf den bösen Geistern würde stellen müssen, die in den dunklen Gassen seiner Albträume lauerten.
Die kalte, sternenlose Nacht war so finster, dass er selbst mit weit aufgerissenen Lidern weder das zusammengewürfelte Mobiliar noch die eigene Hand vor Augen sehen konnte. Ein unsichtbares Insekt flatterte gegen das Moskitonetz, und er konzentrierte sich auf das Summen seiner winzigen Flügel. Indem er sich einbildete, es sehen zu können, und wie hypnotisiert dem Summen lauschte, hoffte er, sich in den Schlaf wiegen zu können. Und fast wäre ihm das auch gelungen. Die Stimmen waren verstummt, er döste immer wieder ein, doch just in dem Moment, als er endgültig in tiefen Schlummer sank, lärmte die infernalische Diskothek von Neuem los. Obwohl es von weither zu kommen schien, breitete sich das Wummern der Bässe aus wie ein Erdbeben und drang bis in den ersten Stock des Gästehauses. Es brachte die Bettpfosten – und Siri – zum Vibrieren.
Was war nur mit der Jugend dieses Landes geschehen? Wie hatte sie einen derart grässlichen Musikgeschmack entwickeln können? Und: Ließ sich das schaurige Gejaule qualvoll verendender Amerikaner überhaupt als Musik bezeichnen? Er wusste nicht mehr, wie viele nervtötende Nummern er über sich hatte ergehen lassen müssen, als er endlich den ersehnten Schlaf fand.
In seiner Traumwelt herrschte seltene, wohltuende Stille. Eine Krähe und eine Spätzin hockten in luftiger Höhe auf einer Hochspannungsleitung. Diese Leitung konnte nur im Traum existieren, denn eine T-28 flog unter ihr hindurch und nahm das Land aus der Luft unter Beschuss. Bomben stürzten in die Reisfelder und versanken im Schlamm, ohne zu explodieren. Es war ein stummer Traum, nicht einmal von Musik begleitet. Die Krähe putzte die Spätzin, als kümmere sie weder ihre Stellung innerhalb der Vogelkaste noch das nahe Schlachtgetümmel. Sie waren gänzlich entrückt. Alles andere schien bedeutungslos. Ein beschaulicher Anblick: die neckenden Vögel, die feuernde T-28, die abgeworfenen Bomben, die einfach nicht explodieren wollten.
Zu seinem Entsetzen fand Siri sich plötzlich außerhalb des Moskitonetzes wieder. Bibbernd stand er da, bekleidet nur mit seiner Unterhose: Ein – wenn auch recht zäher – Festschmaus für fleischfressende Insekten. Er hatte keinen Schimmer, weshalb er die sichere Zuflucht des Moskitonetzes verlassen hatte oder warum er dort stand. Das matte Licht des Vollmonds quoll durch einen Vorhangspalt, und er sah, dass in dem leeren Bett am anderen Ende seines Zimmers ein Mädchen lag. Die Kleine war etwa vier Jahre alt und sichtlich unterernährt. Als Siri zu ihr trat, blickte sie auf.
»Wie bist denn du hierhergekommen, Schätzchen?«, fragte er. »Und warum hast du kein Moskitonetz?«
Sie lächelte. Als sie zu einer Antwort anhob, klang ihre Stimme wie die einer erwachsenen Frau. »Ich habe nicht viel Zeit, Onkel.«
»Was kann ich für dich tun?«
»Schau und sieh«, sagte sie.
Plötzlich ertönte ein Grollen, und dann fiel ihnen buchstäblich die Decke auf den Kopf. Der Fußboden gab nach, und sie trudelten langsam in die Tiefe, wie Blätter von einem Baum. Mit ihnen fiel ein junger Gockel. Er blickte Siri in die Augen und stieß ein heiseres Kikeriki hervor.
Fahles Licht sickerte durch die Nylonvorhänge ins Zimmer. Auf dem Netz über Siris Kopf lag ein gutes Dutzend toter Fluginsekten und streckte alle viere von sich. Obwohl die Traumgeister ihn immer wieder an der Nase herumführten, wirkte das zweite Erwachen heute erstaunlich realistisch. Wieder krähte der Hahn, diesmal begleitet vom Kläffen eines Hundes. Irgendwo ganz in der Nähe spielte eine klui , eine aus grünem Bambus geschnitzte Flöte, technisch perfekt, doch ohne Herz eine simple Melodie. Während Siri ihr lauschte, reckte und streckte er sich unter der Decke, um festzustellen, welche Knochen und Muskeln ihm heute wehtun würden. Darauf hatte er keinen Einfluss. Oft überanstrengte er sich im Traum und musste am nächsten Morgen dafür büßen. Heute jedoch schien alles in bester Ordnung zu sein. Nicht einmal beim Aufstehen spürte er seine Glieder.
Barfuß trat er an das leere Bett und betrachtete die jungfräuliche Decke. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund schlug er sie zurück. Es lag nichts darunter. Wie sollte es auch? Die Wirklichkeit hatte ihn wieder. Er wollte die Decke eben sinken lassen, als er auf etwas trat. Er hörte das quatschende Geräusch und fragte sich, ob er die fallsüchtige Eidechse vielleicht von ihrem Elend erlöst hatte, doch es war nur eine Beere. Sie musste aus der Obstschale auf dem Tisch gekullert sein. Er inspizierte die kleine rote Frucht. Obwohl er die Sorte schon oft gesehen hatte, wusste er nicht, wie sie hieß. Noch vor ein paar Jahren hätte er sie achtlos aus dem Fenster geworfen. Inzwischen jedoch wusste er, dass nichts ohne Bedeutung war, dass alles mit allem zusammenhing. Es gab keine Zufälle. »Schau und sieh.« Er wickelte die Beere in ein Stück Küchenpapier von der Rolle auf dem Tisch und verstaute sie in seiner Tasche.
Siri selbst hatte Herrn Geung von seinen Abenteuern in Luang Prabang erzählt. Es war ein Ort unter vielen, ebenso wie Paris, Frau Kits Besen- und Bürstenfabrik oder der Mond. Für Herrn Geung waren das nichts als Worte. Er verspürte weder den Drang noch die Notwendigkeit, dorthin zu reisen. Er hatte seine eigene kleine Welt und brauchte keine andere. Und so war er auch nicht sonderlich erfreut oder gar beeindruckt, als der Konvoi in der Provinz Luang Prabang eintraf. Die Fahrt in der alten Klapperkiste war für sie alle, insbesondere jedoch für Geung, eine Tortur gewesen.
Er hatte jegliche Hoffnung aufgegeben. Die neuen Reize, die unablässig auf ihn einstürmten, überforderten ihn völlig, und so saß er wie befohlen auf der schmalen Holzbank und starrte verwirrt auf die vorbeiziehende Landschaft, ein grandioses Gebirgspanorama, wie er es in seinem doch recht reduzierten Leben noch nie zu Gesicht bekommen hatte.
Immer wenn sie haltmachten und die Soldaten vom Transporter kletterten, um ihre schmerzenden Glieder zu dehnen und zu strecken, folgte Geung ihnen zum Wasserlassen in den Wald. Inzwischen war er so wortkarg und gefügig, dass die Soldaten ihn eher wie einen Seesack behandelten denn wie einen Gefangenen. Er hievte sich von der Ladefläche, und sie verfrachteten ihn in eine Ecke. Sie führten ihn zum Messzelt oder zu den Kojen. Wohin sie ihn auch stellten, sie wussten, dass er noch dort sein würde, wenn sie ihn brauchten. Sie schenkten ihm so wenig Beachtung, dass sie ihn bei ihrer Ankunft in der Kaserne von Xieng Ngeun längst vergessen hatten.
Der Feldwebel stürzte die hölzernen Stufen hinauf und klopfte an den Rahmen der offenen Tür des Offizierskasinos. Ohne eine Antwort abzuwarten ging er hinein und trat vor seinen Vorgesetzten, der das Mitteilungsblatt der Lao Huksat studierte.
»Hauptmann Ouan?«
»Was gibt’s?«
»Der Schwachkopf.«
»Was ist mit ihm?«
»Er ist verschwunden.«
»Verschwunden? Wohin?«
»Das, äh, das wissen wir leider nicht genau. Als die Transporter ankamen, war er nirgends zu finden.«
Der Hauptmann warf seine Zeitung beiseite. »Sie sollten doch ein Auge auf ihn haben.«
»Ja. Bitte vielmals um Entschuldigung. Er ist nach jeder Rast auf den erstbesten Transporter gestiegen. Wir hatten uns daran gewöhnt, dass er ständig woanders herumlungerte.«
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