»Wohlsein, Richter Haeng.«
»Ist er weg?«
»Wer?«
»Die Missgeburt aus der Pathologie.«
Sie seufzte. »Falls Sie Herrn Geung meinen, den haben sie gestern Abend abgeholt. Er müsste spätestens Mittwoch ankommen.«
»Gut. Ausgezeichnet.« Er hielt schnurstracks auf sein Büro zu.
»Aber …«
Er drehte sich noch einmal um. »Was?«
»Nun ja, ich verstehe das nicht ganz. Herr Geung ist bei allen sehr beliebt.«
»Beliebt? Ich höre wohl nicht recht! Ist das hier ein Ministerium oder ein Asyl für Sonderlinge und Außenseiter? Ich liebe meine Großmutter heiß und innig« – Frau Manivone glaubte ihm kein Wort -, »trotzdem käme ich nicht im Traum auf die Idee, sie mit einem leitenden Posten in der Gerichtsmedizin zu betrauen. Welchen Eindruck würden ausländische Besucher wohl mit nach Hause nehmen, wenn sie sähen, dass unser Staat Idioten beschäftigt?«
Obwohl sie diverse Antworten auf diese Frage parat hatte, stieß sie halblaut hervor: »Dass uns an unseren Mitmenschen gelegen ist?«
»Wie war das?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Dr. Siri davon sehr begeistert sein wird.«
Der Richter schlenderte zurück zu ihrem Schreibtisch. »Ach nein?«
»Nein.«
Er stützte sich auf die Tischplatte und erhob die Stimme, sodass ihn alle hören konnten. »Helfen Sie mir auf die Sprünge, junge Frau – arbeitet Dr. Siri für das Justizministerium?«
»Ja, Richter Haeng.«
»Und bin ich der Leiter des Justizministeriums?«
Manivone rief sich ins Gedächtnis, dass sie drei Kinder zu ernähren hatte. »Ja, Richter Haeng.«
»Und tut er, was ich ihm sage, oder tue ich, was er mir sagt?«
»Also, wenn Sie mich so direkt fragen. Weder noch, Genosse.« Eine ebenso unbesonnene wie zutreffende Bemerkung. Die umgehend mit einer Parteilosung bestraft wurde.
»Jetzt werden Sie mal nicht frech, Genossin Manivone. Im sozialistischen Bienenstock ist eine Biene so wichtig wie die andere. Aber wenn die Drohne der Königin gegenüber den nötigen Respekt vermissen lässt, fließt der Honig nicht halb so süß. Merken Sie sich das.«
»Jawohl, Richter Haeng.«
Er blickte zu den Schreibern, die sich eilends wieder ihrer Arbeit widmeten. Mit einem blasierten Lächeln auf den Lippen stolzierte er zu seinem Büro. Er hätte einen bühnenreifen Abgang hingelegt, wäre die verklemmte Tür nicht gewesen. Er warf sich laut fluchend dagegen, bis sie schließlich nachgab und er in sein Büro stolperte. Die Tür flog hinter ihm ins Schloss.
»Gott schütze die Königin«, kommentierte ein Schreiber das verdruckste Gelächter seiner Kollegen.
Herrn Geungs Angst wuchs mit jedem Kilometer, den sich der Transporter weiter von Vientiane entfernte. Einige der Soldaten befürchteten, er könne jeden Moment durchdrehen. Er kam ihnen vor wie ein Tier in der Falle, das sich glatt den eigenen Fuß abbeißen würde, um sich zu befreien. Selbst dem Feldwebel kamen leise Bedenken, als er Geung schlotternd und bibbernd auf der Holzbank sitzen sah. Aber seine Anweisung war klar und deutlich: Er sollte ihn bei einem Arbeitstrupp im Norden abliefern. Und da der Befehl direkt aus dem Justizministerium kam, konnte er ihn unmöglich verweigern. Seit Einbruch der Dunkelheit reagierte der Gefangene nicht mehr auf die Fragen der Soldaten, und ihre Versuche, ihn aufzuheitern, zeitigten nicht die geringste Wirkung. Sie begriffen weder, wie sehr ihn sein Gewissen quälte, weil er seine Freunde im Stich gelassen hatte, noch wie furchtbar einsam und traurig er war.
Die Einheit wollte im Lager des Achten Bataillons bei Van Khi übernachten. Der Transporter fuhr auf das umzäunte Gelände, und als Geung den Kopf hob, sah er, wie sich das Tor hinter ihnen schloss. Jeder Fluchtversuch war zwecklos.
5
EIN DUMMKOPF AUF ABWEGEN
Eine Obduktion dient nur einem Zweck: der Aufklärung eines rätselhaften Todesfalles. Ist das Rätsel auch nach drei Stunden noch nicht gelöst oder gibt gar immer neue Rätsel auf, so sollte man sich allmählich mit dem Gedanken anfreunden, dass die Operation ein Fehlschlag war. Siri und Dtui wechselten bei jeder neuen Frage, auf die es keine Antwort gab, kopfschüttelnde Blicke. Zugegeben, der Zustand der Leiche machte ihnen die Arbeit nicht eben leichter. Der Zement war Ende Januar gegossen worden, der Leichnam hatte also fünf Monate Zeit gehabt, in Ruhe zu mumifizieren. Alles war stark geschrumpft, und sämtliche Verletzungen oder Anzeichen für etwaige Krankheiten verbargen sich in dem knotigen Gewebe unter dem dicken Panzer, in den sich die Haut verwandelt hatte.
Immerhin waren sie gleich zu Beginn auf drei geringfügige Unregelmäßigkeiten gestoßen. Erstens umklammerte die rechte Faust einen langen, dünnen Schlüssel mit kreisrunder Räute und einfachem Bart. Zweitens, aber das war im Grunde nicht weiter verwunderlich, wiesen die Zähne des Leichnams eine rosa Verfärbung auf, was den Schluss nahelegte, dass der Mann eines gewaltsamen Todes gestorben war. Drittens ragte an der Stelle, wo sich der Brustkorb des Opfers befunden hatte, ein langer, abgebrochener Fingernagel aus dem Beton, obwohl die Nägel der Leiche kurzgeschnitten waren. Er war mit einer Art Lack überzogen und deshalb recht gut erhalten. Woraus sie folgerten, dass der Nagel ursprünglich in der Haut des Opfers gesteckt hatte.
Diese Besonderheiten hatten sich relativ unschwer feststellen lassen. Nicht so die anderen. Das Einschussloch im Brustkorb beispielsweise hatten sie erst sehr viel später entdeckt, und auch das nur, weil sie die Haut Zentimeter für Zentimeter mit den Fingerspitzen abgetastet hatten. Es gelang Siri, eine dünne Häkelnadel in die winzige Öffnung einzuführen, doch so bekam er die Kugel nicht zu fassen. Sie beschlossen, damit bis zur inneren Leichenschau zu warten.
Es sprach einiges dafür, dass der Mann kein Asiate war. Die Gesichtsstruktur sowie die vollen Lippen ließen darauf schließen, dass es sich bei dem Toten um einen Negriden handelte. Zwar mochte dies bis zu einem gewissen Grad auf die postmortale Austrocknung zurückzuführen sein, aber die Haut war dunkler als bei mumifizierten Leichen üblich. Die Zähne der Leiche bestätigten Siris Hypothese. Dtui hatte sie vorsichtig von Betonresten befreit und so den Umriss des Gaumens freilegen können. Zwischen den mittleren Schneidezähnen des Oberkiefers befand sich eine Lücke, ein eindeutiges Indiz für die afrikanische Herkunft des Toten.
Sehr viel mehr hatte die Sektion der Leiche nicht ergeben. Das Vorhandensein eines sauberen Einschussloches, nicht aber der dazugehörigen Kugel, stellte Siri und Dtui vor ein Rätsel. Obwohl das Projektil den Körper nicht durchschlagen hatte, war es ihnen trotz gründlicher Suche nicht gelungen, es zu finden. Und das war nur eine von vielen ungelösten Fragen.
Lit war gekommen, um sich nach dem Obduktionsbefund zu erkundigen. Sie setzten sich mit einer Thermoskanne Tee und drei Blechtassen auf die Veranda des Gästehauses. Es war vier Uhr nachmittags und für diese Tageszeit erstaunlich still. Sie hatten noch nicht über den Toten gesprochen.
»Sieht ganz so aus, als hätten die Polizisten sich verlaufen«, sagte Dtui, als ihr auffiel, dass die Transporter noch nicht zurück waren. Siri hatte ihr seinen Verdacht hinsichtlich ihres Schicksals wohlweislich verschwiegen.
Genosse Lit zeigte sich weitaus mitteilsamer. »Die Lakaien der Amerikaner kommen nicht wieder«, erklärte er ihr ganz nebenbei. Siri kannte die Schmähungen, mit denen die Partei die Funktionsträger des alten Regimes zu belegen pflegte, nur zu gut, doch Dtui hob bei den Worten des Sicherheitschefs verdutzt die Augenbrauen, als habe sie soeben eine ganz neue Seite an ihm entdeckt. Sie hätte sich nicht zu wundern brauchen. Ein Kader, der schon in so jungen Jahren in eine so wichtige Stellung aufgestiegen war, wusste genau, wie man sich möglichst elegant an der Parteilinie entlangbewegte. Eine Gratwanderung, die jederzeit mit einem tödlichen Absturz enden konnte.
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