«Dann also zu Bett», murmelte Sir Henry vor sich hin und ging hinauf.
V
Es war drei Uhr. Der Wind hatte sich gelegt, und über dem ruhigen Meer schien der Mond.
Conway Jefferson lag gegen die Kissen gelehnt im Bett, und außer seinen tiefen Atemzügen war im Zimmer kein Laut zu hören.
Kein Windhauch konnte die Vorhänge bewegen, und doch bewegten sie sich… Sie teilten sich einen Moment, und eine Silhouette zeichnete sich im Mondlicht ab. Dann schlossen sie sich wieder. Alles war still, doch jetzt war noch jemand im Zimmer.
Näher und näher schlich sich der Eindringling ans Bett. Die Atemzüge auf dem Kissen gingen gleichmäßig weiter.
Kein Geräusch war zu hören, oder kaum ein Geräusch. Ein Zeigefinger und ein Daumen senkten sich auf eine Hautfalte herab, die andere Hand hielt die Spritze bereit.
Plötzlich kam eine Hand aus dem Dunkel und schloss sich um die Hand mit der Spritze. Ein Arm legte sich eisern um die Gestalt, und eine nüchterne Stimme, die Stimme des Gesetzes, sagte: «Haiti Her mit der Spritze!»
Licht flammte auf, und aus den Kissen blickte Conway Jefferson grimmig in das Gesicht des Mörders von Ruby Keene.
I
Sir Henry Clithering sagte: «Um mit Watson zu sprechen: Ich würde gern Ihre Methoden kennen lernen, Miss Marple.»
Superintendent Harper sagte: «Und ich wüsste gern, wie Sie darauf gekommen sind.»
Colonel Melchett sagte: «Haben Sie’s wieder mal geschafft! Sie müssen uns alles erzählen, von Anfang an.»
Miss Marple strich die braunrote Seide ihres besten Abendkleides glatt. Sie lächelte errötend und schien sich sehr unbehaglich zu fühlen.
«Sie werden meine ‹Methoden›, wie Sir Henry sie nennt, schrecklich dilettantisch finden, fürchte ich. Sehen Sie, es ist doch so, dass die meisten Leute – und Polizisten machen da keine Ausnahme – viel zu vertrauensvoll für diese schlechte Welt sind. Sie glauben einfach, was man ihnen sagt. Ich nicht. Ich möchte es immer erst nachprüfen.»
«Der wissenschaftliche Ansatz», sagte Sir Henry.
«In unserem Fall», fuhr Miss Marple fort, «hat man gewisse Dinge von vornherein als gegeben hingenommen, statt sich strikt an die Fakten zu halten. Und die Fakten waren für mich, dass das Opfer sehr jung war, dass es Nägel gekaut hat und dass es etwas vorstehende Zähne hatte, wie viele junge Mädchen, wenn das Gebiss nicht beizeiten korrigiert wird – aber Kinder sind da sehr unartig und nehmen ihre Zahnspangen heraus, wenn die Erwachsenen nicht in der Nähe sind.
Aber ich schweife ab. Wo war ich stehen geblieben? Ach, ja. Ich habe mir also das tote Mädchen angesehen, voller Bedauern, denn es ist immer traurig, wenn ein so junges Leben ausgelöscht wird. Wer das getan hatte, musste ein sehr böser Mensch sein. Dass sie in Colonel Bantrys Bibliothek gefunden wurde, war verwirrend, viel zu romanhaft, um wahr zu sein. Das ergab ein ganz falsches Bild. Aber so war es ja auch nicht gedacht gewesen, daher unsere Verwirrung. Ursprünglich sollte die Leiche dem armen Basil Blake untergeschoben werden, zu dem das Mädchen auch viel besser gepasst hätte. Dass der sie dann in Colonel Bantrys Bibliothek brachte, hat alles Weitere stark verzögert und muss dem wahren Mörder äußerst unangenehm gewesen sein.
Ursprünglich hätte also Mr. Blake als Erster verdächtigt werden müssen. Man hätte in Danemouth nachgeforscht und herausgefunden, dass er Ruby kannte und auch noch zu einem anderen Mädchen Kontakt aufgenommen hatte. Man wäre davon ausgegangen, dass Ruby ihn erpressen wollte oder dergleichen und dass er sie in einem Wutanfall erwürgt hatte. Ein ganz normales, erbärmliches Halbweltverbrechen, wie ich es nenne!
Aber es kam alles anders, und so hat sich das Interesse viel zu früh auf die Jeffersons konzentriert zum großen Ärger einer gewissen Person.
Ich bin, wie gesagt, ein misstrauischer Mensch. Mein Neffe Raymond meint (im Scherz natürlich und ganz liebevoll), ich hätte wie die meisten Viktorianer eine abgrundtief schlechte Phantasie. Ich kann dazu nur sagen: Wir Viktorianer kennen die menschliche Natur eben recht gut.
Da also eine schlechte Phantasie auch ihr Gutes hat, habe ich mir als Erstes den finanziellen Aspekt der Sache angesehen. Zwei Menschen konnten vom Tod des Mädchens profitieren, so viel stand fest. Fünfzigtausend Pfund sind eine Menge Geld, besonders wenn man wie die beiden in finanziellen Schwierigkeiten steckt. Aber es waren nette, angenehme Leute, denen man so etwas nie zugetraut hätte. Nur – man weiß nie, nicht wahr?
Mrs. Jefferson zum Beispiel – jeder mochte sie. Doch diesen Sommer war eine große Unruhe in ihr aufgekommen. Sie hatte das Leben, das sie führte, die völlige Abhängigkeit von ihrem Schwiegervater satt. Von seinem Arzt wusste sie aber, dass er nicht mehr lange zu leben hat, und so war sie, herzlos gesagt, ganz beruhigt – oder sie wäre es gewesen, wenn Ruby Keene nicht auf der Bildfläche erschienen wäre. Mrs. Jefferson hätte alles für ihren Sohn getan – manche Frauen haben ja die kuriose Vorstellung, dass ein Verbrechen, das man seinen Kindern zuliebe begeht, geradezu moralisch gerechtfertigt ist. Einer ähnlichen Haltung bin ich auf dem Dorf schon mehrmals begegnet. ‹Sie hat’s doch für Daisy getan, Miss›, heißt es dann, als würde fragwürdiges Verhalten dadurch weniger fragwürdig. Sehr laxe Moral.
Mr. Gaskell bot natürlich weit mehr Angriffsfläche. Er war ein Spieler und hatte meiner Einschätzung nach keine allzu strengen moralischen Grundsätze. Aber aus bestimmten Gründen war ich der Überzeugung, dass eine Frau bei dem Verbrechen die Hand im Spiel hatte.
Im Hinblick auf das Motiv hatte der finanzielle Aspekt einiges für sich. Dummerweise hatten sowohl Mr. Gaskell als auch Mrs. Jefferson ein Alibi für den Zeitpunkt, zu dem Ruby Keene laut ärztlichem Befund getötet worden war. Doch dann wurde der ausgebrannte Wagen mit Pamela Reeves’ Leiche entdeckt. Damit war alles klar. Die Alibis waren wertlos.
Ich hatte jetzt zwei Hälften, beide recht überzeugend, aber sie passten nicht zusammen. Irgendeine Verknüpfung musste es geben, aber ich fand sie nicht. Die einzige Person, von der ich wusste, dass sie in das Verbrechen verwickelt war, hatte kein Motiv.
Es war dumm von mir», sagte Miss Marple nachdenklich, «aber ohne Dinah Lee wäre ich einfach nicht darauf gekommen, dabei war es das Naheliegendste der Welt. Das Einwohneramt! Die Ehe! Es ging nicht nur um Mr. Gaskell und Mrs. Jefferson – es gab noch andere Möglichkeiten. Wenn einer der beiden verheiratet war oder auch nur vorgehabt hatte zu heiraten, dann war die andere Partei des Ehevertrages ebenfalls betroffen. Raymond zum Beispiel hatte sich möglicherweise gute Chancen auf eine Heirat mit einer reichen Frau ausgerechnet. Er war sehr aufmerksam Mrs. Jefferson gegenüber, und vermutlich war es sein Charme, der sie aus dem langen Dornröschenschlaf ihrer Witwenschaft geweckt hat. Bis dahin war sie gar nicht ungern Mr. Jeffersons Tochter gewesen – wie bei Ruth und Noomi, nur dass Noomi, wie Sie sich vielleicht erinnern, einiges auf sich genommen hat, um eine standesgemäße Heirat für Ruth zu arrangieren.
Außer Raymond gab es da noch Mr. McLean. Mrs. Jefferson mochte ihn sehr, und es sah ganz danach aus, als würde sie ihn eines Tages heiraten. Er war nicht vermögend und hat sich in der fraglichen Nacht nicht weit von Danemouth entfernt aufgehalten. Eigentlich hätte es also jeder sein können, nicht wahr? Aber im Grunde wusste ich ja Bescheid. An den abgekauten Fingernägeln führte einfach kein Weg vorbei.»
«Abgekaut?», warf Sir Henry ein. «Hatte sie sich nicht einen Nagel eingerissen und die anderen dann kurz geschnitten?»
«Unsinn», sagte Miss Marple. «Abgekaute Nägel sehen ganz anders aus als kurz geschnittene! Wer nur das mindeste von Mädchenfingernägeln weiß, der sieht den Unterschied sofort. Sehr hässlich, solche abgekauten Nägel, wie ich den Mädchen in meiner Klasse immer sage. Die Nägel waren also ein Faktum. Und sie konnten nur eines bedeuten: Die Leiche in Colonel Bantrys Bibliothek war gar nicht Ruby Keene.
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