«Ich weiß doch, meine Liebe. Ich bin ja aus dem gleichen Grund hier.»
I
In einem ruhigen Hotelzimmer lauschte Edwards respektvoll Sir Henry Clitherings Worten.
«Es gibt da gewisse Fragen, die ich Ihnen gern stellen würde, Edwards, aber zuvor möchte ich unmissverständlich klarstellen, welche Position ich hier einnehme. Ich war früher Chef von Scotland Yard, habe mich aber inzwischen ins Privatleben zurückgezogen. Ihr Herr hat mich nach der Tragödie hierher gebeten, um mit Hilfe meiner Fähigkeiten und meiner Erfahrung der Wahrheit auf die Spur zu kommen.»
Sir Henry machte eine Pause. Edwards’ helle, kluge Augen ruhten auf seinem Gesicht. Dann neigte der Diener den Kopf und sagte: «Ganz recht, Sir Henry.»
Langsam und bedächtig fuhr Clithering fort: «In jedem Kriminalfall wird zwangsläufig einiges an Informationen zurückgehalten. Dafür kann es verschiedene Gründe geben: Ein Familiengeheimnis droht ans Licht zu kommen, man sieht keinen Zusammenhang mit dem Verbrechen, oder man fürchtet, in eine peinliche Situation zu geraten.»
«Ganz recht, Sir Henry», wiederholte Edwards.
«So, Edwards, die wichtigsten Punkte der Angelegenheit dürften Ihnen nun deutlich geworden sein. Das tote Mädchen sollte Mr. Jeffersons Adoptivtochter werden. Zwei Personen hatten ein Motiv, das zu verhindern, und diese beiden sind Mr. Gaskell und Mrs. Jefferson.»
Die Augen des Dieners glommen einen Moment lang auf. «Darf ich fragen, ob sie unter Verdacht stehen?», erkundigte er sich.
«Verhaftung droht ihnen nicht, wenn Sie das meinen. Aber die Polizei muss sie verdächtigen, und sie wird es so lange tun, bis der Fall geklärt ist.»
«Eine unangenehme Situation für die beiden, Sir.»
«Höchst unangenehm. Um nun der Wahrheit näher zu kommen, müssen alle Fakten erfasst werden, ohne Ausnahme. Sehr viel – und das muss auch so sein – hängt von den Reaktionen, Worten und Gesten Mr. Jeffersons und seiner Familie ab. Wie war ihnen zumute, was hat man ihnen angemerkt, was ist gesagt worden? Was ich von Ihnen möchte, Edwards, sind interne Informationen – Informationen, über die nur Sie verfügen. Sie kennen die Stimmungen Ihres Herrn und können aufgrund Ihrer Erfahrung vermutlich auch sagen, wodurch sie hervorgerufen werden. Ich sage das nicht als Polizist, sondern als Freund von Mr. Jefferson. Wenn Sie mir also etwas mitteilen, was ich im Zusammenhang mit dem Fall für irrelevant halte, werde ich es nicht an die Polizei weitergeben.»
Er hielt inne.
«Ich verstehe, Sir», sagte Edwards ruhig. «Sie möchten, dass ich offen rede, dass ich Dinge sage, die ich normalerweise nicht sagen würde und die Sie sich – Sie verzeihen, Sir – auch ganz gewiss nicht anhören würden.»
«Sie sind ein kluger Mann, Edwards. Genau das wollte ich damit sagen.»
Edwards schwieg eine Weile und begann dann zu erzählen.
«Ich kenne Mr. Jefferson natürlich inzwischen recht gut, ich bin ja schon seit Jahren bei ihm. Und ich sehe ihn auch in seinen schlechten Phasen, nicht nur in seinen guten. Manchmal frage ich mich im Stillen, ob es sinnvoll ist, so gegen das Schicksal anzukämpfen, wie Mr. Jefferson es tut. Das fordert einen hohen Tribut, Sir. Hätte er sich hin und wieder einmal gehen lassen, sich zugestanden, ein unglücklicher, einsamer, gebrochener alter Mann zu sein – ich glaube, es wäre letzten Endes besser für ihn gewesen. Aber dazu ist er zu stolz! Sich niemals kampflos ergeben, das ist seine Devise.
Aber die Nerven, Sir Henry, die machen so etwas nicht ewig mit. Mr. Jefferson wirkt so ausgeglichen, aber ich habe auch schon erlebt, dass er vor Wut kaum noch sprechen konnte. Und ganz besonders bringt es ihn auf, wenn man ihn täuscht…»
«Denken Sie da an etwas Bestimmtes, Edwards?»
«Ja, Sir. Sie hatten mich gebeten, ganz offen zu sein?»
«So ist es.»
«Nun, Sir Henry, meiner Meinung nach war die junge Frau, die es Mr. Jefferson so angetan hatte, seiner Zuwendung nicht wert. Sie war, um es rundheraus zu sagen, eine ziemlich gewöhnliche Person. Und sie hat sich nicht das Geringste aus Mr. Jefferson gemacht. Ihre Zuneigung, ihre Dankbarkeit – das war alles gespielt. Sicher, sie war kein schlechter Mensch, aber sie war auch nicht entfernt das, wofür Mr. Jefferson sie gehalten hat. Seltsam, denn Mr. Jefferson kann man so leicht nichts vormachen. Er hat sich selten in jemandem geirrt. Aber wenn eine junge Frau im Spiel ist, setzt der Verstand eben aus. Sehen Sie, die junge Mrs. Jefferson, deren Zuneigung ihm immer so wichtig war, hat sich in diesem Sommer stark verändert. Das hat ihm schwer zu schaffen gemacht. Er mochte sie sehr, verstehen Sie? Für Mr. Mark hatte er nie viel übrig.»
«Und trotzdem war er ständig mit ihm zusammen?», warf Sir Henry ein.
«Ja, aber nur wegen Miss Rosamund, also Mrs. Gaskell. Sie war sein Augapfel. Er hat sie über alles geliebt. Mr. Mark war für ihn immer nur Rosamunds Mann.»
«Und wenn Mr. Mark wieder geheiratet hätte?»
«Dann wäre Mr. Jefferson wütend gewesen, Sir.»
Sir Henry zog die Brauen hoch. «So stark hätte er reagiert?»
«Ja, wenn er es sich auch nicht hätte anmerken lassen.»
«Und wenn Mrs. Jefferson wieder geheiratet hätte?»
«Das hätte ihm ebenso wenig gefallen, Sir.»
«Bitte fahren Sie fort, Edwards.»
«Ja, also, was ich sagen wollte: Mr. Jefferson fiel auf die junge Frau herein. Ich habe das bei meinen Herren oft erlebt. Es überkommt sie wie eine Krankheit. Sie möchten das Mädchen beschützen, es abschirmen, es mit Wohltaten überschütten, aber in neun von zehn Fällen kann das Mädchen sehr gut für sich selbst sorgen und hat ein sicheres Gespür für die große Chance.»
«Sie meinen also, Ruby Keene war eine Intrigantin?»
«Nun ja, Sir, sie war noch ziemlich unerfahren – sie war ja noch so jung –, aber sie hatte durchaus das Zeug dazu, sie hätte sozusagen nur richtig in Schwung kommen müssen! Noch fünf Jahre, und sie wäre Expertin auf diesem Gebiet gewesen!»
«Ich bin froh, Ihre Meinung über sie zu hören, das hilft mir sehr. Nun meine nächste Frage: Erinnern Sie sich, ob das Thema Adoption einmal zwischen Mr. Jefferson und seiner Familie besprochen wurde?»
«Da wurde nicht viel besprochen, Sir. Mr. Jefferson hat seinen Entschluss bekannt gegeben und keinen Widerspruch geduldet. Das heißt, er ist Mr. Mark über den Mund gefahren, der sich recht unverblümt geäußert hat. Mrs. Jefferson hat ohnehin nicht viel gesagt – sie ist ja eine sehr ruhige Dame –, sie hat ihn nur eindringlich gebeten, nichts zu überstürzen.»
Sir Henry nickte. «Und sonst? Wie hat das Mädchen sich verhalten?»
«Triumphiert hat sie, Sir – so würde ich es nennen», erwiderte der Diener sichtlich angewidert.
«Aha – triumphiert, sagen Sie? Sie hatten keinen Grund zu der Annahme, Edwards, dass» – er suchte nach einer passenden Formulierung – «dass – äh – ihre Gefühle anderweitig gebunden waren?»
«Mr. Jefferson wollte sie ja nicht heiraten, Sir. Er wollte sie nur adoptieren.»
«Gut, lassen wir das ‹anderweitig› beiseite. Aber die Frage bleibt.»
«Hm, ja, einen Vorfall hat es gegeben, Sir, bei dem ich zufällig Zeuge war.»
«Sehr erfreulich. Erzählen Sie.»
«Wahrscheinlich hat es gar nichts zu bedeuten, Sir, aber einmal, als die junge Frau ihre Handtasche geöffnet hat, ist eine kleine Fotografie herausgefallen. Mr. Jefferson hat sofort danach gegriffen und gesagt: ‹Nanu, Kleines, wer ist denn das?› Es war ein Bild von einem jungen Mann, dunkelhaarig, ziemlich zerzaust, mit schlampig gebundener Krawatte. Miss Keene hat so getan, als wüsste sie von nichts. ‹Ich weiß nicht, Jeffie›, hat sie gesagt, ‹keine Ahnung. Wie kommt das bloß in meine Handtasche? Ich hab’s jedenfalls nicht reingetan!›
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