»Madame Olivier? Ja, sie... «
»Mais non, nicht Madame Olivier. Cela va sans dire! Es gibt nicht viele Genies ihresgleichen in der Welt. Nein, ich meinte die andere, die Dame, die uns im Treppenhaus begegnete!«
»Ich habe ihr Gesicht nicht sehen können«, entgegnete ich erstaunt. »Ich kann mir auch nicht denken, daß du es gesehen haben kannst, nachdem sie es offensichtlich abwandte.«
»Das ist eben der Grund, warum ich von einer ungewöhnlichen Frau sprach«, sagte Poirot ruhig. »Eine Frau, die ihr Haus betritt - denn ich nehme an, sie wohnt hier, da sie einen Schlüssel hatte - und schnell die Treppe hinaufstürmt, ohne die zwei fremden Besucher, die sich im Treppenhaus befinden, auch nur anzusehen, ist wirklich als außergewöhnlich zu bezeichnen. Mille tonnerres! Was soll das bedeuten?« Er riß mich zurück - gerade noch zur rechten Zeit. Ein Baumstamm war auf den Weg gestürzt, gerade scharf an uns vorbei. Poirot schaute hin, starr vor Entsetzen.
»Das war sehr knapp! Aber wie konnte ich auch darauf vorbereitet sein - ich hatte keinen Verdacht - wenigstens kaum einen Verdacht. Ja, wenn meine Augen die Situation nicht gleich erfaßt hätten, dann dürfte Hercule Poirot wohl jetzt nicht mehr unter den Lebenden sein - ein schrecklicher Verlust für die Welt! Und auch du, mon ami, wärest nicht mehr da, obgleich das nicht eine Katastrophe von solch weltbewegender Bedeutung gewesen wäre«, setzte er spöttisch hinzu. »Vielen Dank«, entgegnete ich kühl, »und was werden wir jetzt tun?«
»Tun?« rief Poirot. »Wir werden jetzt nachdenken. Ja, hier, und zwar gleich auf der Stelle werden wir unsere kleinen grauen Zellen in Funktion treten lassen. Dieser Mr. Halliday - war er nun tatsächlich in Paris? Ja, denn Professor Bourgoneau, mit dem er bekannt ist, hat ihn gesehen und mit ihm gesprochen.«
»Worauf, in aller Welt, willst du hinaus?« rief ich aus.
»Das war am Freitag morgen. Er wurde zuletzt Freitag nacht um elf Uhr gesehen - aber hat man ihn wirklich zu dieser Zeit gesehen?«
»Der Portier - «
»Ein Nachtportier, der zudem Halliday vorher noch nie gesehen hatte. Ein Herr betritt das Hotel, anscheinend Halliday -Nummer vier hat sicher für einen Doppelgänger gesorgt -fragt nach eingegangener Post, geht auf sein Zimmer, packt einen kleinen Koffer und schlüpft heimlich am nächsten Morgen hinaus. Niemand hat Halliday während des ganzen Abends gesehen - niemand, da er sich ja bereits in den Händen seiner Widersacher befand. War es wirklich Halliday, den Madame Olivier empfing? Er muß es gewesen sein, obgleich sie ihn nicht von Angesicht kannte. Einem Unbeteiligten wäre es kaum möglich gewesen, sie auf ihrem Spezialgebiet zu täuschen. Halliday suchte sie also tatsächlich auf, hatte eine Unterredung mit ihr und entfernte sich wieder. Was ereignete sich dann?« Poirot packte meinen Arm und zog mich förmlich zur Villa zurück.
»Nun, mon ami, stell dir einmal vor, es ist am Tag nach seinem Verschwinden, und wir verfolgen Spuren. Du liebst doch Spuren, nicht wahr? Sieh, hier haben wir solche, und zwar die von Mr. Halliday...« Er wandte sich nach rechts, wie wir es vorhin getan hatten, und entfernte sich eilig. »Ah! Andere Schritte folgen ihm mit der gleichen Eile, die Schritte einer Frau. Sieh, jetzt hat sie ihn erreicht - eine schlanke junge Dame in Witwentracht. »Pardon, Monsieur, Madame Olivier wünscht, daß ich Sie zurückrufe.« Er stockt und kehrt um. Nun, welchen Weg wählt die junge Dame? Sie will nicht mit ihm gesehen werden. Ist es ein Zufall, daß sie ihn gerade am Zugang eines schmalen Pfades anspricht, der zwei Gärten voneinander trennt? Sie geht ihm voraus und erklärt, dieser Weg sei eine Abkürzung. Zur Rechten befindet sich Madame Oliviers Villa, zur Linken eine andere - und von diesem Gartengrundstück stammt ja der Baum, der vorhin niedergestürzt ist. Die Gartentore der beiden Villen führen auf diesen Pfad heraus. Hier befindet sich der Hinterhalt, einige Männer stürzen sich auf Halliday, überwältigen ihn und schleppen ihn in die fremde Villa.«
»Lieber Himmel, Poirot«, rief ich aus, »willst du mir einreden, daß dies alles geschehen ist?«
»Ich sehe es vor meinem geistigen Auge, mon ami. So und nur so kann es passiert sein. Komm, laß uns zum Haus zurückgehen.«
»Willst du Madame Olivier nochmals aufsuchen?« Poirot lächelte seltsam.
»Nein, Hastings, ich möchte mir gern die Dame genau ansehen, der wir im Treppenhaus begegnet sind.«
»Wofür hältst du sie denn, vielleicht für eine Verwandte von Madame Olivier?«
»Mit größter Wahrscheinlichkeit ist es ihre Sekretärin - und zwar noch nicht lange in ihren Diensten.« Derselbe würdevolle junge Mann öffnete uns. »Können Sie«, erkundigte sich Poirot, »mir den Namen der Dame sagen, die gerade vorhin das Haus betrat?«
»Madame Veroneau, Madames Sekretärin?«
»Das ist die Dame. Würden Sie so freundlich sein, sie zu einer kurzen Unterredung zu bitten.«
Der junge Mann entfernte sich, erschien aber bald wieder. »Es tut mir leid, Madame Veroneau muß bereits wieder fortgegangen sein.«
»Das glaube ich nicht«, antwortete Poirot gelassen. »Wollen Sie ihr bitte meinen Namen ausrichten, Hercule Poirot, ich würde sie gern in einer wichtigen Angelegenheit sprechen, da ich mich gerade auf dem Wege zur Präfektur befinde.«
Der Bedienstete verschwand wiederum, und gleich darauf erschien die Dame. Sie betrat den Salon, und wir folgten ihr. Dann drehte sie sich um und lüftete ihren Schleier. Zu meinem nicht geringen Erstaunen erkannte ich in ihr unsere alte Bekannte, die Comtesse Rossakoff, die russische Gräfin, wieder, die seinerzeit in London einen einzigartig dreisten Juwelenraub inszeniert hatte.
»Schon als ich Sie im Treppenhaus erblickte, fürchtete ich das Schlimmste«, bekannte sie kläglich. »Meine liebe Gräfin Rossakoff -« Sie schüttelte den Kopf.
»Jetzt Inez Veroneau«, murmelte sie, »eine Spanierin mit einem Franzosen verheiratet. Was wünschen Sie von mir, Monsieur Poirot? Sie sind doch ein schrecklicher Mensch. Sie jagten mich ja bereits von London weg. Jetzt, nehme ich an, werden Sie alles unserer wundervollen Madame Olivier berichten und mich so aus Paris vertreiben. Wir armen Russinnen müssen doch auch leben, können Sie das nicht verstehen?«
»Es handelt sich um weitaus ernstere Angelegenheiten als Sie annehmen, Madame«, sagte Poirot, sie scharf beobachtend. »Ich schlage vor, Sie begeben sich sofort zur Villa nebenan und befreien Mr. Halliday, wenn er noch am Leben ist. Sie sehen, ich bin über alles unterrichtet.«
Ich sah, wie sie plötzlich erbleichte. Erst nagte sie an ihrer Oberlippe, dann sprach sie mit der bei ihr üblichen Entschlossenheit.
»Er ist noch am Leben, aber er befindet sich nicht in der Villa nebenan. Hören Sie, Monsieur Poirot, ich will Ihnen einen Vorschlag machen. Sie belassen mich in Freiheit - und Sie bekommen dafür Mr. Halliday lebend und wohlauf.«
»Angenommen«, sagte Poirot.»Ich war bereits im Begriff, Ihnen denselben Vorschlag zu machen. Doch erlauben sie mit noch eine Frage: Sind Ihre Auftraggeber die Großen Vier, Madame?«
Wiederum bemerkte ich das tödliche Erbleichen, das über ihre Züge ging, doch ließ sie diese Frage unbeantwortet. Statt dessen sagte sie: »Sie gestatten wohl, daß ich telefoniere?« Sie ging zum Telefon hinüber und wählte eine Nummer. »Ich rufe jetzt dort an, wo Ihr Freund sich augenblicklich befindet«, sagte sie erklärend. »Sie können die Nummer durch die Polizei ermitteln lassen, jedoch wird das Nest bereits leer sein, wenn man dort ankommt. Ah, da haben wir schon die Verbindung. Bist du es, Andre? Ich bin es, Inez. Der kleine Belgier ist über alles unterrichtet. Schicke Halliday in sein Hotel, und mach dich aus dem Staube.« Sie legte den Hörer wieder auf die Gabel und kam lächelnd auf uns zu. »Sie werden uns zum Hotel begleiten, Madame.«
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