»Nur einen Brief, und das muß der gewesen sein, den ich an dem Tage geschrieben habe, an dem er England verließ.« Poirot blieb eine Zeitlang stumm; dann erhob er sich. »Nun, Madame, die Lösung des Rätsels liegt in Paris, und zu diesem Zwecke werde ich mich unverzüglich auf die Reise machen.«
»Es liegt aber alles bereits so lange zurück, Monsieur.«
»Ja, trotz allem, wir müssen dort weitersuchen.« Er wandte sich zur Tür, hielt jedoch inne, die Hand am Türgriff. »Sagen Sie, Madame, erinnern Sie sich, daß Ihr Gatte jemals irgend etwas über die Großen Vier erwähnt hat?«
»Die Großen Vier«, wiederholte sie verständnislos, »nein, ich kann mich nicht erinnern.«
6
Das war alles, was wir von Mrs. Halliday in Erfahrung bringen konnten. Wir eilten zurück nach London, und am nächsten Tag waren wir bereits auf dem Weg zum Kontinent. Mit ziemlich resigniertem Lächeln bemerkte Poirot: »Diese Großen Vier halten mich tatsächlich in Trab, mon ami. Ich laufe hin und her, kreuz und quer, wie unser gemeinsamer Freund, der Jagdhund in Menschengestalt.«
»Vielleicht triffst du ihn in Paris«, sagte ich; ich wußte wohl, daß er einen gewissen Giraud damit meinte, einen der findigsten Detektive der Sürete, den er bei einer früheren Gelegenheit kennengelernt hatte.
Poirot zog eine Grimasse. »Ich hoffe, daß es mir erspart bleibt. Der mag mich nicht leiden.«
»Wird es nicht schwierig sein«, fragte ich, »ausfindig zu machen, was ein unbekannter Engländer an einem bestimmten Abend vor zwei Monaten unternommen hat?«
»Sogar sehr schwierig, mon ami, aber, wie du genau weißt, Schwierigkeiten erfreuen das Herz von Hercule Poirot.«
»Denkst du an die Möglichkeit, daß die Großen Vier ihn verschleppt haben könnten?« Poirot nickte.
Unsere Ermittlungen hatten bisher nichts Neues erbracht, und wir wußten nicht viel mehr als das, was uns Mrs. Halliday schon erzählt hatte. Poirot hatte eine längere Unterredung mit Professor Bourgoneau, in deren Verlauf er herauszufinden suchte, ob Halliday von irgendwelchen anderen Plänen für den Abend gesprochen hatte, aber diese Frage blieb vollständig offen.
Unsere nächste Informationsquelle lag bei der berühmten Madame Olivier. Ich war ziemlich erregt, als wir die Stufen zu ihrer Villa in Passy hinaufgingen. Es erschien mir außergewöhnlich, daß es einer Frau gelungen sein sollte, eine so prominente Stellung in der Welt der Wissenschaft einzunehmen. Bisher war ich jedenfalls der Meinung gewesen, daß nur die männliche Intelligenz diesen Aufgaben gewachsen sei. Die Tür wurde durch einen jungen Burschen geöffnet, der auf mich den Eindruck eines Meßdieners machte, der streng auf die Einhaltung eines gewissen Rituals bedacht ist.
Poirot hatte sich die Mühe gemacht und uns vorher angemeldet, da es ihm bereits bekannt war, daß Madame Olivier wegen ihrer intensiven Forschungsarbeit niemals Besucher ohne Voranmeldung empfing.
Wir wurden in einen kleinen Salon geführt, den kurz darauf die Dame des Hauses betrat. Madame Olivier war eine große Erscheinung, ihre Schlankheit wurde noch betont durch einen langen weißen Mantel und eine weiße Kappe, die ihren Kopf umhüllte. Sie hatte ein schmales, bleiches Gesicht und wundervolle dunkle Augen, die beinahe schwärmerisch leuchteten. Sie glich eher einer Priesterin alter Zeiten als einer modernen Französin. Die eine Wange war durch eine Narbe entstellt, und ich erinnerte mich, daß ihr Gatte und sein Assistent vor drei Jahren bei einer Explosion im Laboratorium getötet wurden, während sie schreckliche Verbrennungen davongetragen hatte. Seither hatte sie sich von der Umwelt abgeschlossen und sich mit wahrem Eifer in ihre wissenschaftlichen Arbeiten vertieft. Sie empfing uns mit kühler Höflichkeit.
»Ich bin bereits des öfteren durch die Polizei vernommen worden, meine Herren. Ich glaube daher kaum, daß ich Ihnen noch irgendwie von Nutzen sein kann, da ich auch der Polizei keine befriedigende Auskunft habe geben können.«
»Madame, es ist durchaus wahrscheinlich, daß meine Fragen von denen der Polizei abweichen. Um gleich zu beginnen, was war der Inhalt Ihrer Gespräche mit Mr. Halliday?« Sie sah etwas überrascht auf.
»Natürlich seine Arbeit! Seine Arbeit und auch die meine.«
»Erzählte er Ihnen auch über seinen Vortrag, welchen er vor nicht allzu langer Zeit vor einem britischen Auditorium gehalten hat?«
»Natürlich tat er das. Es war das Hauptthema unserer Unterhaltung.«
»Seine Ideen waren wohl etwas phantastischer Natur, oder nicht?« fragte Poirot skeptisch.
»Einige Leute waren wohl dieser Meinung, ich bin jedoch anderer Ansicht.«
»So halten Sie sie also als durchaus durchführbar?«
»Auf jeden Fall. Meine Forschungen gingen nach derselben Richtung, obgleich sie nicht das gleiche Ziel hatten. Ich habe die Gammastrahlen untersucht, die bei einer Substanz in Erscheinung treten, welche unter dem Namen Radium C, dem Produkt einer Radiumstrahlung, bekannt ist, und dabei bin ich auf dieselben magnetischen Erscheinungen gestoßen. Tatsächlich habe ich eine Theorie bezüglich des wahren Ursprungs der Kräfte, die wir als Magnetismus bezeichnen, jedoch sind meine Untersuchungen noch nicht so weit abgeschlossen, daß sie veröffentlicht werden könnten. Mr. Hallidays Experimente und Gedankengänge waren außerordentlich interessant für mich.«
Poirot nickte. Dann stellte er eine Frage, die mich völlig überraschte.
»Madame, wo fanden die Gespräche statt - in diesem Raum?«
»Non, Monsieur, im Laboratorium.«
»Darf ich es einmal sehen?«
» Selbstverständlich.«
Sie führte uns durch die Tür, durch welche sie hereingekommen war, und wir betraten einen schmalen Gang. Danach durchschritten wir zwei weitere Türen und befanden uns in einem großen Laboratorium mit seinen vielen Gefäßen, Schmelztiegeln und Hunderten von anderen Versuchsgegenständen, von welchen ich nicht einmal die Namen kannte. Zwei Angestellte arbeiteten gerade an einem Experiment. Madame Olivier stellte sie vor.
»Mademoiselle Claude, eine meiner Assistentinnen.« Eine große, ernst blickende junge Dame nickte uns zu. »Monsieur Henri, ein alter und vertrauter Freund.« Der Herr, klein und dunkel, verbeugte sich höflich. Poirot sah sich im Raum um. Es boten noch zwei weitere Türen Zugang außer der einen, durch die wir hereingekommen waren. Eine davon, erklärte Madame Olivier, führe in den Garten, die andere in einen Nebenraum, der ebenfalls für Untersuchungen bestimmt sei. Poirot nahm alles aufmerksam zur Kenntnis und erklärte sodann, in den Salon zurückkehren zu wollen.
»Madame, waren Sie während Ihrer Unterredung mit Mr. Halliday allein?«
»Ja, Monsieur. Meine Assistenten waren in dem kleinen Raun nebenan.«
»Konnte das Gespräch belauscht werden - von diesen oder irgend jemand anders?«
Madame Olivier überlegte und schüttelte dann den Kopf. »Ich glaube nicht. Ich bin dessen beinahe sicher. Die Türen waren alle verschlossen.«
»Könnte sich vielleicht ein Fremder in dem Raum verborgen gehalten haben?«
»Es befindet sich zwar ein großer Schrank in der Ecke, aber die Idee erscheint mir absurd.«
»Pas tout a fait, Madame; aber nun noch eine Frage: Hat Mr. Halliday irgendeine Äußerung über seine Pläne für den Abend gemacht?«
»Er hat mir gegenüber nichts dergleichen erwähnt, Monsieur.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Madame, und entschuldigen Sie bitte die Störung. Bitte bemühen Sie sich nicht, wir finden den Ausgang schon.«
Wir waren im Treppenhaus, als eine Dame gerade durch die Haustür trat. Sie eilte die Treppen hinauf, und ich bemerkte noch die strenge Trauerkleidung, wie sie von französischen Witwen getragen wird.
»Eine außergewöhnliche Frau«, bemerkte Poirot, als wir uns entfernten.
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