»Setze dich, Hastings«, befahl Poirot in bestimmtem Ton. »Zähme deine guten und ehrenvollen Regungen, und setz dich hin. Ihnen aber, mein Herr, sage ich folgendes: Was würde mich hindern, die Polizei zu verständigen und Sie verhaften zu lassen, während mein Freund Sie daran hindert, sich davonzumachen?«
»Tun Sie ihren Gefühlen keinen Zwang an, wenn Sie es für ratsam halten«, sagte unser Besucher mit äußerster Ruhe. »So höre doch endlich auf zu zögern, Poirot«, rief ich, »das ist ja nicht mehr auszuhalten. Ruf die Polizei, und laß ihn verhaften.«
Ich erhob mich schnell und stellte mich mit dem Rücken zur Tür.
»Es scheint der einzige Weg zu sein«, murmelte Poirot, als wollte er mit sich ins reine kommen.
»Aber so offensichtlich scheint er Ihnen wohl doch nicht zu sein, was?« sagte unser Besucher mit einem Lächeln. »Nun entschließe dich doch endlich, Poirot«, drängte ich. »Auf deine Verantwortung, mon ami.«
Als er den Hörer aufnahm, sprang der Mann katzenartig auf mich zu. Ich fing ihn auf, und in der nächsten Minute hielten wir uns in eisernem Griff und taumelten durch das Zimmer. Er schwankte und glitt aus, ich fühlte mich bereits im Vorteil, als er vor mir zu Boden fiel. Aber dann, meines Sieges sicher, ereignete sich etwas Unvorhergesehenes. Ich fühlte mich hochgehoben und landete kopfüber, meine Glieder in wüstem Durcheinander, an der Wand. Ich erhob mich zwar sofort, doch die Tür fiel schon hinter meinem Widersacher ins Schloß. Ich rannte hinterher, rüttelte, aber sie war von außen abgeschlossen. Dann entriß ich Poirot den Hörer. »Ist dort der Empfang? Halten Sie einen Mann auf, der hinaus will, ein großer Mann mit hochgeschlossenem Überzieher und weichem Hut. Er wird von der Polizei gesucht.« Nur einige Minuten vergingen, bis wir ein Geräusch auf dem Gang hörten. Der Schlüssel drehte sich im Schloß, die Tür wurde aufgestoßen, und der Direktor des Hotels erschien.
»Wo ist der Mann - haben Sie ihn erwischt?« schrie ich. »Nein, mein Herr, es ist niemand heruntergekommen.«
»Aber er muß doch an Ihnen vorbeigekommen sein?«
»Mir ist niemand begegnet, Monsieur. Er kann unmöglich entkommen sein.«
»Sie sind sicher jemandem begegnet«, sagte Poirot mit gedämpfter Stimme.»Vielleicht jemandem vom Hotelpersonal?«
»Nur einem Kellner mit einem Tablett, Monsieur.«
»Aha«, sagte Poirot. »Deshalb also war er zugeknöpft bis zum Kragen.«
Poirot versank in tiefes Nachdenken, nachdem das aufgeregte Hotelpersonal sich endlich entfernt halte.
»Es tut mir unendlich leid, Poirot«, murmelte ich ziemlich beschämt. »Ich glaubte ihn bereits überwältigt zu haben.« »Ja, das war nun mal eben ein Judogriff, und nun sei nicht weiter so betrübt, mon ami. Alles verlief planmäßig - und zwar nach seinem Plan. Es ist genau das, was ich erreichen wollte.«
»Was wolltest du bezwecken?« fragte ich, indem ich mich nach einem braunen Gegenstand bückte, der auf dem Fußboden lag. Es war ein dünnes Taschenbuch aus braunem Leder, das unser Besucher während des Kampfes verloren haben mußte. Es enthielt zwei quittierte Rechnungen, ausgestellt auf den Namen Felix Laon, und ein zusammengefaltetes Stück Papier, welches mein Herz schneller schlagen ließ. Es war die halbe Seite eines Notizblockes, auf welche einige Worte gekritzelt waren. »Die nächste Zusammenkunft findet am Freitag um elf Uhr vormittag in der Rue des Echelles Nr. 34 statt.« Es war unterzeichnet mit einer großen Zahl - 4. Und heute war Freitag, die Uhr auf dem Kaminsims zeigte gerade 10.30 Uhr.
»Mein Gott, was für ein Zufall!« rief ich. »Das Schicksal meint es trotzdem gut mit uns. Wir müssen uns unverzüglich auf den Weg machen. Welch erstaunliches Glück.«
»Deshalb ist er also gekommen«, murmelte Poirot. »Nun sehe ich ganz klar.«
»Was denn, Poirot? So komm doch endlich!«
Poirot sah mich an, schüttelte den Kopf und lächelte in seiner typischen Art.
»Treten Sie bitte ein! sagte die Spinne zu der kleinen Fliege. So steht es doch wohl geschrieben in dem Märchen, das die englischen Kindermädchen ihren Schützlingen erzählen, nicht wahr? Nein, nein - sie glauben zwar, mich täuschen zu können - und dennoch durchschaue ich sie.«
»Worauf in aller Welt willst du hinaus, Poirot?« »Mein lieber Freund, ich bin nach den heutigen Geschehnissen mit mir zu Rate gegangen. War unser Besucher tatsächlich der Meinung, er würde irgendwelche Aussichten haben, mich bestechen zu können? Oder, andernfalls, mich in Angst versetzen und mich zur Einstellung meiner Tätigkeit veranlassen zu können? Es ist kaum anzunehmen. Warum ist er also überhaupt gekommen? Nun, ich durchschaue den ganzen Plan -sehr schlau und durchdacht -, der scheinbare Vorwand, mich entweder bestechen oder abschrecken zu können, sodann der provozierte Kampf, bei dem der Mann absichtlich sein Notizbuch verlor, und nun die Falle! Rue des Echelles, elf Uhr morgens. Ich denke gar nicht daran, mon ami! So leicht kann man Hercule Poirot nicht einfangen.«
»Allmächtiger Himmel», stammelte ich.
Poirot schaute gedankenverloren vor sich hin.»Es gibt aber noch etwas, das ich durchaus nicht verstehen kann.«
»Das wäre?«
»Die Zeit, Hastings - die Zeit. Wenn sie mich in eine Falle locken wollten, so würde sich doch die Nachtzeit besser dazu eignen. Warum zu so früher Stunde? Ist es vielleicht möglich, daß sich heute morgen noch irgend etwas anderes ereignet? Etwas, das sie vor mir verbergen wollen?« Er senkte den Kopf.
»Wir werden sehen. Hier bleibe ich sitzen, mon ami. Wir rühren uns heute morgen nicht von der Stelle und warten ab, was geschehen wird.«
Es war genau 11.30 Uhr, als der Stein ins Rollen kam: ein Telegramm. Poirot riß es auf und gab es mir. Madame Olivier bat uns darin, unverzüglich nach Passy zu kommen. Wir kamen der Aufforderung ohne einen Augenblick zu zögern nach. Madame Olivier empfing uns in demselben kleinen Salon. Ich war von neuem tief beeindruckt von der wundervollen Erscheinung dieser Nachfolgerin von Becquerel und den Curies, ihrem schmalen, nonnenhaften Gesicht und ihren ausdrucksvollen Augen.
Sie kam sogleich zur Sache.
»Messieurs, Sie stellten mir gestern einige Fragen in Verbindung mit dem Verschwinden von Mr. Halliday. Ich erfahre soeben, daß Sie ein zweites Mal hierher zurückkehrten, um meine Sekretärin, Inez Veroneau, zu sehen. Sie verließ das Haus mit Ihnen und ist bis jetzt noch nicht zurückgekommen.«
»Ist das alles, Madame?«
»Nein, Monsieur, nicht alles; letzte Nacht wurde in mein Laboratorium eingebrochen, und es wurden mehrere wertvolle Papiere und Aufzeichnungen gestohlen. Die Diebe haben versucht, noch etwas weit Wertvolleres zu stehlen, aber glücklicherweise konnten sie den großen Safe nicht öffnen.«
»Madame, ich möchte Sie von folgenden Tatsachen unterrichten. Ihre frühere Sekretärin, Madame Veroneau, ist in Wirklichkeit die Gräfin Rossakoff, eine Expertin im Diebstahl, und sie war auch verantwortlich für das Verschwinden von Mr. Halliday. Wie lange stand sie schon in Ihren Diensten?«
»Fünf Monate, Monsieur. Was Sie mir da berichten, beunruhigt mich in höchstem Maße.«
»Leider ist es so. Waren diese verschwundenen Unterlagen leicht zu finden, oder nehmen Sie an, daß ein Eingeweihter an dem Verschwinden beteiligt ist?«
»Allerdings ist es ziemlich seltsam, daß die Diebe genau wußten, wo sie zu suchen hatten. Denken Sie etwa, daß Inez -?«
»Ja, ich zweifle keine Minute daran, daß der Diebstahl auf Grund ihrer Informationen erfolgte. Aber was ist das weit Wertvollere, das die Diebe nicht finden konnten? Etwa Juwelen?«
Madame Olivier schüttelte den Kopf mit einem schwachen Lächeln.
»Weitaus wertvoller als das, Monsieur.« Sie sah sich vorsichtig um, beugte sich vor und sprach mit leiser Stimme:
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