Kaum dass das Boot im Hafen des Malqata-Palastes angelegt hatte, stürmten Simut und ich durch die bewachten Eingangstüren und rannten die langen Korridore hinunter. Verzweifelt versuchte ich mich zu erinnern, wie man zu Mutnedjmets Gemächern gelangte, aber das düstere Labyrinth des Palastes verwirrte mich nur.
»Bring mich zu Khays Dienstzimmer!«
Simut nickte, und wir rannten weiter. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, an die Tür zu klopfen, sondern stürmte gleich hinein. Khay schlief tief und fest, lag schnarchend auf seiner Liege, den Kopf im Nacken, die Kleider noch am Leib, der Weinkelch leer. Brutal schüttelte ich ihn, und er schreckte hoch wie ein Mann, der nach einem Unfall das Bewusstsein wiedererlangt, und starrte uns beide mit wildem Blick an.
»Bringt uns zu Mutnedjmets Gemächern! Sofort!«
Verdutzt sah er mich an, aber ich packte ihn, riss ihn auf die Füße und schob ihn gewaltsam durch die Tür. »Nehmt Eure Hände von mir!«, tönte er mit quengeliger Stimme. »Ich bin durchaus in der Lage, ohne Hilfe zu gehen.«
Er stolperte los und versuchte, seinem Erscheinungsbild wieder so etwas wie Würde zu verleihen.
Die Türen zu Mutnedjmets Gemächern waren geschlossen, und die Seile waren verknotet und versiegelt. Als wir darauf zugingen, spürte ich ein leichtes Knirschen unter meinen Füßen. Verwirrt ging ich in die Hocke, und im nächsten Moment sah ich im Schein unserer Lampen etwas glitzern. Ich fuhr mit der Fingerspitze darüber und rieb mir dann damit über die Lippen. Natronsalz. Vermutlich war es aus einem Sack gerieselt, den jemand in die Gemächer getragen hatte. Aber warum tat man so was?
Ich brach die Siegel auf, und vorsichtig traten wir ein. In den Räumen war es totenstill und finster. Von den Zwillingen fehlte jede Spur. Ich hielt die Lampe hoch und lief durch den Korridor, der in den Salon führte. Doch als ich an den Vorratsräumen vorbeiging, sah ich, dass etwas nicht stimmte. Der Inhalt zweier großer Vorratskrüge – der eine war voller Korn, der andere voller Mehl gewesen – war auf dem Fußboden zu ordentlichen Haufen aufgeschüttet worden. Simut sah mich an. Vorsichtig hob ich den Deckel von einem der beiden Krüge. Darin saß eine gutangezogene kleine Gestalt bis zur Brust in ihrem eigenen Blut. Als ich genauer hinschaute, sah ich den Griff seines juwelenbesetzten Dolches, den man dem Zwerg ins Herz gerammt hatte. Den kleinen Hinterkopf hatte man ihm ebenfalls eingeschlagen. Ich öffnete den anderen Krug. Das gleiche Bild.
Wir betraten den Salon. Dort hatte ein Kampf stattgefunden. Möbel waren umgeworfen worden. Kelche lagen zerschmettert auf dem Fußboden. Und auf einer niedrigen, vergoldeten Bank lag ein dunkles, graues Häufchen. Ganz vorsichtig schaufelte ich händeweise das Salz herunter. Mutnedjmets Augenhöhlen starrten mich an, weiß und leer; ihr hageres Gesicht, das von den Salzkristallen glitzerte, war dermaßen ausgedörrt und faltig, dass es den Anschein hatte, die Zeit habe es von einem Augenblick zum anderen ausgesaugt. Die Lippen waren verschrumpelt und weiß, und der offene Mund war so trocken wie ein Leinentuch, das man in die Mittagssonne gelegt hat.
»Was ist mit ihr passiert?«, wisperte Simut.
»Das Natron hat ihr sämtliche Flüssigkeit aus dem Körper gezogen. Ihre inneren Organe dürften sich inzwischen in einen dunkelbraunen Brei verwandelt haben.«
»Sie hat also noch gelebt, als er ihr das da angetan hat?« Angesichts einer derart ausgeklügelten Barbarei konnte der Soldat nur den Kopf schütteln.
»Auf diese Weise zu sterben muss lange gedauert haben. Sie muss vor Durst fast wahnsinnig geworden sein. Und das ist es, was ihn fasziniert. Menschen ganz genau dabei zu beobachten, wie sie leiden und sterben. Ich bin mir allerdings sicher, dass er das nicht nur tut, weil es ihm Vergnügen bereitet, ihren Qualen beizuwohnen. Der Schmerz ist nur ein Teil des Gesamtprozesses, nicht dessen Ziel. Erreichen will er etwas anderes. Etwas Originelleres.«
»Aber was?«, fragte Simut.
Ich starrte auf die arme Frau ohne Augen. Das war die entscheidende Frage.
Als wir wieder zurück durch die Gänge liefen, erinnerte ich mich plötzlich an die kleine Glasphiole, die ich in Sobeks Laboratorium gefunden hatte. Ich öffnete sie, aber obwohl sie mit dem Stöpsel verschlossen und das Datum so sorgfältig darauf vermerkt war, schien sie leer zu sein. Nur am Boden entdeckte ich kleine Rückstände einer glitzernden weißen Substanz. Ich tupfte mir ein wenig davon auf den Finger und leckte es vorsichtig ab. Wieder Salz, aber kein Natronsalz. Eine andere Art von Salz. Es schmeckte vertraut. Ich wusste nur nicht, woher ich den Geschmack kannte.
Haremhabs prachtvolles Staatsschiff, die Glorie von Memphis , ankerte inzwischen auf den stillen Wassern des Sees. Dräuend erhob es sich über seinem schimmernden Spiegelbild und sah aus wie eine gefährliche Waffe. Besonderen Schutz gewährte dem Schiff das Horusauge, das in gleichmäßigen Abständen auf den gesamten Rumpf gemalt war. Zwischen den einzelnen Augen befanden sich andere Bildnisse wie der Widderkopf des Amun, geflügelte Falken und Darstellungen des Königs, der mit den Füßen seine Feinde zertrampelte. Über die Gucklöcher an den Seiten schritt in kühner Haltung Month, der Gott des Krieges und Beschützer der Waffen; und die Decksaufbauten waren mit bunten Kreisen bemalt. Selbst die einzelnen Ruderblätter zierte das Horusauge. Noch bedrohlicher wurde der Anblick durch die Leichen der sieben hethitischen Soldaten, die man an den Füßen aufgehängt hatte, sodass sie sich langsam in der Morgensonne drehten, während sie in deren Licht verwesten.
»Meinst du, er hat sich schon blicken lassen?«, fragte ich Simut, der neben mir stand und mit mir dieses einschüchternde Schiff begutachtete.
»Nein. Ihm wird daran gelegen sein, seinen großen Auftritt im Palast bestmöglich zu nutzen.«
»Kennst du ihn persönlich?«, wollte ich wissen.
Simut starrte auf das Schiff.
»Ich war in Memphis Kadett, als er bereits Stellvertretender Kommandeur des Nördlichen Heeres war. Ich erinnere mich, dass er mal kam, um eine Rede zu halten. Bei einem privaten Fest für Offiziere der Ptah-Division, von denen man annahm, dass sie Karriere machen würden. Damals hatte er bereits in die königliche Familie eingeheiratet. Jeder wusste, dass er in Bälde General werden würde, und man behandelte ihn fast so, als sei er der König. Seine Ansprache war interessant. Er sagte, die Amunpriester hätten eine tiefgreifende Schwäche: Ihr Tun sei darauf ausgerichtet, Reichtümer anzuhäufen, und seiner Meinung nach konnte die Sehnsucht nach Reichtum in den Menschen nie befriedigt werden, sondern wurde immer größer und endete schließlich in Dekadenz und Korruption. Wie er argumentierte, entstand dadurch sowohl logischerweise als auch unvermeidlicherweise ein Kreislauf, der zu Instabilität in den Beiden Ländern führte, die uns unseren Feinden gegenüber verwundbar machen würde. Er sagte, die Armee habe die heilige Pflicht, diesen Kreislauf zu durchbrechen, indem sie für Ordnung sorge. Das Recht dazu könne sie sich aber nur erhalten, wenn sie ethisch und moralisch unantastbar bliebe.«
»Wenn Menschen von ethischer und moralischer Unantastbarkeit sprechen, meinen sie damit, dass sie ihre Unsittlichkeit und Amoral unter dem Deckmäntelchen der Tugend verbergen«, erwiderte ich.
Simut sah mich an.
»Für einen Medjai kannst du dich gut ausdrücken.«
»Ich weiß, wovon ich rede«, antwortete ich. »Menschen sind nicht in der Lage, sich absolut ethisch und moralisch zu verhalten. Und das ist gut so, denn wenn sie es wären, wären sie meines Erachtens nicht mehr menschlich.«
Knurrend starrte Simut auf das großartige Schiff im Hafen.
»Er hat auch etwas über die königliche Familie gesagt, was ich nie vergessen habe«, sprach er schließlich weiter. »Er sagte, für sie habe Priorität, den Fortbestand ihrer Dynastie als Stellvertreter der Götter auf Erden zu sichern. Und das wäre selbstverständlich in Ordnung, solange es mit den Interessen der Beiden Länder vereinbar sei. Er sagte aber, wenn es Unstimmigkeiten oder Aufruhr gäbe oder wenn die königliche Familie bei ihren göttlichen Pflichten versage, sollten die Beiden Länder ihren eigenen Bedürfnissen und Wertvorstellungen Priorität geben. Nicht denen der königlichen Familie. Und deshalb habe ausschließlich die Armee, die weder nach persönlicher Macht noch nach persönlichem Reichtum strebe, sondern lediglich die Ordnung in der Welt erhalten wolle, die heilige Pflicht, ihre Herrschaft zum Wohle des Überlebens der Beiden Länder zu erzwingen.«
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