»Wer steckt deines Erachtens dahinter?«, erkundigte ich mich unschuldig.
»Ich weiß es nicht, aber wenn wir diese Leute finden, werde ich ihnen eigenhändig die Haut vom Leib ziehen, langsam und in schmalen Streifen. Und dann werde ich sie an Pfählen in die Mittagssonne der Wüste stellen, als Mahl für die Bulldoggenameisen und Skorpione. Und ich werde zuschauen.«
Ich wusste, dass ihm nicht genug Ressourcen zur Verfügung standen, um angemessene Ermittlungen anzustellen. Im Verlauf der letzten Jahre hatte man das Budget der Medjai immer wieder gekürzt und die Gelder der Armee zukommen lassen, und sehr viele, zu viele ehemalige Medjai waren mittlerweile entweder arbeitslos oder – für ein besseres Gehalt, als sie es je von der Medjai bezogen hatten – als private Sicherheitskräfte reicher Kunden und deren Familien tätig, sowohl in deren Privathäusern als auch in ihren mit Schätzen vollgestopften Grabkammern. Unter solchen Bedingungen die städtische Polizei zu leiten war nicht leicht. Also würde er tun, was er in der Regel tat, wenn ein ernsthaftes Problem vorlag: Er würde ein paar mutmaßliche Verdächtige verhaften, Anklagepunkte gegen sie erfinden und sie mit großem Spektakel hinrichten lassen. Das ist heutzutage der Lauf der Gerechtigkeit.
Er fläzte sich nach hinten, und ich sah, was für einen dicken Bauch er seit seiner Beförderung bekommen hatte. Der Speck, der für Wohlstand und Bequemlichkeit stand, schien Teil seines neuen Egos geworden zu sein.
»Ist schon eine Weile her, seit du eines deiner großen Projekte hattest, nicht wahr? Ich schätze mal, dass du hier herumschnüffelst, um dich irgendwie in die Ermittlungen einzumischen …«
Wie er mich beäugte, das weckte den Wunsch in mir, aufzustehen und zu gehen.
»Ich doch nicht«, erwiderte ich. »Mir gefällt das ruhige Leben.«
Er wirkte beleidigt. »Warum, zum Teufel, bist du dann hier? Besichtigst du die Räumlichkeiten?«
»Ich habe heute Morgen eine Leiche untersucht. Die Leiche eines Jungen, eines jungen Mannes, der unter interessanten Umständen …«
Er ließ mich nicht aussprechen.
»Um ein totes Balg scheren wir uns hier einen Scheißdreck«, fiel er mir ins Wort. »Schreib einen Bericht, leg ihn ab … und dann tu mir den Gefallen und verschwinde. Für dich gibt es hier heute nichts zu tun. Nächste Woche bin ich vielleicht in der Lage, dir irgendeine kleine Sache zuzuteilen, die du aufwischen kannst, nachdem die anderen die eigentliche Arbeit geleistet haben. Es ist an der Zeit, den jüngeren Kollegen eine Chance zu geben.«
Ich zwang mich zu einem Lächeln, hatte aber den Eindruck, dass es eher an das Zähnefletschen eines zornigen Hundes erinnerte. Das sah er. Er grinste, erhob sich, lief um den Tisch herum und öffnete mir mit vorgetäuschtem Eifer die Tür. Ich verließ den Raum. Laut fiel die Tür hinter mir ins Schloss.
Draußen auf dem Hof hatte man Hunderte unglücklicher Männer und Frauen aller Altersgruppen zusammengepfercht, die kreischten, dass sie unschuldig waren, Bittgesuche schrien oder einander beschimpften. Viele warfen mit dem irdischen Besitz um sich, den sie in diesem Moment bei sich trugen – Schmuck, Ringe, Kleidungsstücke, und hin und wieder war auch eine Botschaft dabei, die sie auf eine Tonscherbe gekratzt hatten –, um die Wachen dazu zu bringen, sie freizulassen. Niemand scherte sich darum. Man würde sie so lange festhalten, wie man das für erforderlich hielt. Systematisch und gnadenlos banden die Medjai die Hand- und Fußgelenke derer zusammen, die noch nicht gefesselt waren.
Ich betrat den Gefängnisblock durch den niedrigen dunklen Eingang, und sofort roch ich den scharfen und beharrlichen Gestank der Angst. In kleinen Zellen wurden gefesselte Gefangene gefoltert, indem man ihnen die Fuß- und Handgelenke ausrenkte oder aber mit harten Schlägen auf sie einprügelte, während ihre »Beichtväter« mit ruhiger Stimme ohne Unterlass die gleichen Fragen wiederholten, genau so, wie ein Vater sein lügendes Kind zur Rede stellt. Das jammervolle Wehklagen der Gefangenen wurde gar nicht zur Kenntnis genommen. Derartige Schmerzen und die Angst vor diesen Schmerzen konnte kein Mensch ertragen. Deshalb sagten die Opfer natürlich schon lange, bevor die Messer gezückt wurden und man ihnen die scharfen Klingen zeigte, alles, wovon man ihnen sagte, dass sie es sagen sollten.
Ich entdeckte sie in der dritten Zelle. Sie kauerte in einer dunklen Ecke auf dem stinkenden Boden.
Ich betrat den Käfig. Die Gefangenen machten mir Platz, als hätten sie Angst, ich würde sie treten. Sie verbarg ihr Gesicht unter ihrem schwarzen Haar. Ich baute mich vor ihr auf.
»Schau mich an.«
Sie hob den Kopf, und ich sah etwas in ihrem Gesicht, das mich berührte – vielleicht war es der Stolz, der darin geschrieben stand, vielleicht war es der Zorn, vielleicht auch die erstaunliche Jugend. Ich wollte ihre Geschichte hören. Mir war, als habe sie jene Art von Ungerechtigkeit heimgesucht, die ein ganzes Leben entstellen kann.
»Wie heißt du?«
Sie schwieg.
»Deine Familie wird dich vermissen.«
Sie sackte leicht in sich zusammen. Ich kniete mich vor sie.
»Warum hast du das getan?«
Immer noch nichts.
»Weißt du, dass es hier Männer gibt, die dich dazu bringen können, alles zu sagen, was sie hören wollen?«
Jetzt zitterte sie. Ich wusste, dass ich sie hätte melden müssen. Nur wurde mir in diesem Moment klar, dass ich das nicht tun konnte. Ich konnte dieses Mädchen nicht den Händen der Foltermeister übergeben. Damit hätte ich nicht leben können.
Sie drehte den Kopf zur Seite und wartete, dass über ihr Schicksal entschieden wurde. Ich starrte sie an. Was sollte ich tun?
Grob packte ich sie, riss sie auf die Füße und brachte sie aus der Zelle heraus. Ich war bekannt genug, keinen meiner Ausweise vorzeigen zu müssen. Ich nickte den Wachen einfach nur zu, als wollte ich sagen ›Die gehört mir‹, und schob sie vor mir durch den stinkenden Korridor.
»Halt den Mund, und hör auf zu zappeln«, flüsterte ich ihr in mahnendem Ton ins Ohr. Dann durchschnitt ich die Stricke, mit denen man ihr die Hände und Füße gefesselt hatte. Ein Ausdruck dankbaren Erstaunens legte sich auf ihre Züge. Sie wollte etwas sagen, aber ich bedeutete ihr, auch weiterhin keinen Mucks von sich zu geben. Mit einem Lappen, den ich in einen Topf mit Wasser tunkte, säuberte ich ihr Gesicht so gut ich eben konnte, und dabei befragte ich sie.
»Sprich leise. Wer hat diese Tat befohlen?«
»Niemand hat sie befohlen. Wir haben es aus eigenen Stücken getan. Irgendjemand muss gegen die Ungerechtigkeit und Korruption in diesem Staat protestieren.«
Ich schüttelte den Kopf über ihre Naivität.
»Bildest du dir ein, den König mit Blut zu bewerfen würde etwas ändern?«
Verächtlich sah sie mich an.
»Natürlich wird das etwas ändern. Wer hat denn bisher je den Mut gehabt, ein Zeichen zu setzen? Diese Tat wird niemand vergessen. Sie war erst der Anfang.«
»Und du warst bereit, dafür zu sterben?«
Überzeugt von ihren Idealen nickte sie. Wieder schüttelte ich den Kopf.
»Glaub mir, wenn du dich an jemandem abreagieren willst, dann bestimmt nicht an diesem Knaben in den goldenen Gewändern. Da gibt es andere, die sehr viel größere Macht besitzen und deine Aufmerksamkeit verdienen.«
»Ich weiß, was in diesem Land im Namen der Gerechtigkeit von mächtigen und reichen Männern verbrochen wird. Und Ihr? Ihr seid ein Medjai. Ihr seid ein Teil des Problems.«
»Vielen Dank. Warum tust du es?«
»Warum sollte ich Euch irgendetwas erzählen?«
»Weil ich, wenn du es mir nicht erzählst, nicht tun werde, was ich ansonsten zu tun beabsichtige: dich freizulassen.«
Verblüfft starrte sie mich an.
»Mein Vater …«
»Sprich weiter.«
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