Schwester Berrachs Stimme stockte, und sie schauderte bei der Erinnerung.
»Heilige Mutter Gottes, schütze mich! In diesem Augenblick wurde mir klar, daß Schwester Siomha auf die gleiche Weise getötet worden war wie der Leichnam im Brunnen. Ich glaube, ich habe vor Entsetzen laut aufgeschrien.«
»Und dann seid Ihr die Treppe hinuntergerannt?« half Fidelma etwas nach.
»Nicht sofort. Als ich aufschrie, hörte ich hinter mir ein Geräusch. Ich drehte mich um, mein Herz raste. Ich sah einen Schatten, Kopf und Schultern vermummt, der schnell durch die Klapptür im Boden und die Treppe hinunter verschwand.«
Fidelma beugte sich rasch vor.
»Waren Kopf und Schultern die eines Mannes oder einer Frau?«
Berrach schüttelte den Kopf.
»Es tut mir leid, das weiß ich nicht. Es war so finster, und alles ging so schnell. Ich war vor Angst wie gelähmt und nicht in der Verfassung, weitere Nachzu-forschungen anzustellen. Daß ich mit dem Ungeheuer, das die Tat begangen hatte, allein gewesen war, weckte in mir die Furcht vor der ewigen Verdammnis. Ich weiß nicht, wie lange ich dort in dem dunklen Raum neben der Toten kniete. Zweifellos eine ganze Weile.«
»Ihr habt einfach dort im Dunkeln gekniet? Ihr habt Euch nicht bewegt oder geschrien?«
»Angst übt eine seltsame Gewalt über den Körper aus, Schwester. Angst bringt den Lahmen zum Laufen, der Gesunde dagegen wird lahm wie ein Krüppel.«
Fidelma nahm das mit einer ungeduldigen Geste zur Kenntnis.
»Was dann, Berrach?«
»Schließlich erhob ich mich und spürte, wie mir das Blut eiskalt durch die Adern schoß. Wie gesagt, ich weiß nicht, wie lange das dauerte. Ich wollte den Gong schlagen, um die anderen zu alarmieren, und zündete gerade die Laternen an, da hörte ich wieder ein Geräusch.«
»Was für ein Geräusch?«
»Ich hörte das Schlagen einer Tür. Ich hörte Schritte, die die Treppe heraufkamen. Ich hörte, wie sie sich näherten. Mein erster Gedanke, Schwester, war, daß der Mörder zurückkehrte - zurückkehrte, um sicherzustellen, daß ich nicht mehr reden würde.«
Sie hielt inne und schien einen Augenblick nach Luft zu ringen, doch dann fing sie sich wieder.
»Diesmal ließ mich die Angst nicht, wie beim ersten Mal, wie angewurzelt stehenbleiben, sondern verlieh mir ungeahnte Kräfte. Ich drehte mich um und arbeitete mich, so schnell ich konnte, mit Händen und Füßen die Treppe hinunter. Ich erinnere mich, daß ich eine Gestalt heraufkommen sah und dachte, der Vermummte kehrt zurück. Das ist die Wahrheit! Ich nahm alle Kraft zusammen, um die Gestalt brutal niederzustoßen, damit ich Zeit gewann, um zu entkommen .«
»Erinnert Ihr Euch, ob die Gestalt ein Licht in der Hand hatte?«
Berrach runzelte die Stirn.
»Ein Licht?«
»Eine Lampe oder eine Kerze?«
Das Mädchen dachte eine Weile nach.
»Ich kann mich nicht erinnern. Vielleicht eine Kerze. Ist das wichtig? Ich hörte sie aufschreien. Erst als ich den Innenhof schon überquert hatte, wurde mir bewußt, daß es die Äbtissin gewesen war.«
»Warum seid Ihr dann nicht zurückgekehrt?«
»Ich war ganz durcheinander. Immerhin hatte ich die vermummte Gestalt in dem Raum mit der Wasseruhr gesehen. Vielleicht war die Äbtissin sogar die Mörderin. Woher sollte ich das wissen?«
Fidelma antwortete nicht.
»Ich lief hierher, so schnell ich konnte. Ich hatte gerade meine Zelle erreicht, als Bronach hereinkam und mich fragte, warum ich so aufgeregt sei. Ich erzählte es ihr, und sie wollte hingehen und nachsehen, was passiert war. Ich hatte Angst, der Mörder könnte mir gefolgt sein.«
»Aber das hatte der Mörder nicht getan. Ihr wart doch bestimmt um Bronachs Sicherheit besorgt, als sie allein zum Turm hinüberging?«
»Ich war ganz durcheinander«, wiederholte Berrach.
»Warum habt Ihr Euch verbarrikadiert?«
»Ich hörte den Lärm, als die Schwestern geweckt wurden. Erst war Licht im Turm und dann in den Schlafräumen. Ich wollte gerade hinausgehen, doch eine der Schwestern, es war Lerben, rief: >Schwester Siomha ist von Berrach ermordet worden!< Da wußte ich, daß ich verloren war. Welche Chance hat denn jemand wie ich, Gerechtigkeit zu finden? Ich soll für etwas bestraft werden, was ich nicht getan habe.«
Fidelma betrachtete sie nachdenklich.
»Noch eine Frage, Berrach. Ist Euch irgend etwas Besonderes an Schwester Siomhas Körper aufgefallen? Abgesehen von der Enthauptung, meine ich?«
Berrach riß sich einen Augenblick von ihren angstvollen Gedanken los und starrte Fidelma fragend an.
»Etwas Besonderes?«
»Vielleicht eine Ähnlichkeit in der Art und Weise, wie die namenlose Tote im Brunnen zurückgelassen wurde«, legte ihr Fidelma nahe.
Schwester Berrach dachte einen Augenblick gründlich nach.
»Ich glaube nicht.«
»Ich meine, habt Ihr bemerkt, daß etwas an ihren linken Arm gebunden war?«
Die Bestürzung des Mädchens wirkte echt, als es den Kopf schüttelte.
»Kennt Ihr die uralten, heidnischen Bräuche?«
»Wer kennt sie nicht?« erwiderte Berrach. »Ihr solltet wissen, daß die Menschen in diesen abgelegenen Gegenden, fernab der großen Kathedralen und Städte, nach wie vor sehr naturverbunden leben und den ausgetretenen Pfaden weiterhin folgen. Bringt hier einem Christen einen Kratzer bei, und Ihr werdet sehen, daß das Blut in seinen Adern heidnisch ist.«
Fidelma wollte gerade etwas darauf erwidern, als sie von draußen Stimmen hörte, die immer lauter wurden, bis sie als Sprechgesang zu ihnen in die Kammer drangen. Erstaunt hörte sie, daß die Stimmen einen Namen riefen: »Berrach! Berrach! Berrach!«
Die Schwester stieß ein mitleiderregendes Stöhnen hervor.
»Seht Ihr?« wimmerte sie. »Seht Ihr? Sind sie gekommen, um mich zu bestrafen?«
»Schwester Fidelma!«
Fidelma erkannte die Stimme von Schwester Ler-ben, die den Lärm übertönte. Allmählich verstummte der Sprechchor.
Fidelma erhob sich und ging zur Tür. Sie warf Schwester Berrach einen Blick zu und versuchte, ermutigend zu lächeln.
»Habt Vertrauen zu mir«, beruhigte sie das Mädchen. Dann schob sie den Tisch beiseite und öffnete die Tür.
Schwester Lerben stand am anderen Ende des Korridors, und einige ihrer Mitnovizinnen drängten sich hinter ihr zusammen, Laternen in den Händen.
»Seid Ihr dort sicher, Schwester?« wollte die Novizin von Fidelma wissen. »Wir haben uns Sorgen gemacht, als wir nichts mehr von Euch hörten.«
»Was hat dieses aufrührerische Geschrei zu bedeuten? Die Schwestern sollen sich zerstreuen und in ihre Zellen zurückkehren.«
»Wir, die Mitglieder dieser Gemeinschaft, sind gekommen, um die Mörderin zu holen. Die Ermordung Schwester Siomhas darf nicht ungestraft bleiben. Bringt Berrach heraus. Ihre Schwestern haben beschlossen, daß der Tod die einzig angemessene Strafe für sie ist.«
Die jungen Nonnen, die sich dort am Ende des Korridors zusammendrängten und Berrachs Namen riefen, wirkten wie Besessene. Ihre Hysterie war kaum noch unter Kontrolle zu halten, und Fidelma wurde wütend, als sie erkannte, daß Draigen rein gar nichts unternommen hatte, um die verängstigten Gemüter zu beruhigen. Lerben schien die Raserei, die jeglicher Logik widersprach, noch geschürt zu haben und gebärdete sich als Anführerin der Gruppe, die sich von einer Zusammenrottung des Pöbels kaum noch unterschied. Von der Äbtissin war keine Spur zu sehen.
»Die Schwestern haben beschlossen?« fragte Fidelma in gefährlich drohendem Tonfall.
Schwester Lerben sprach sehr eindringlich. »Die Sache ist ganz einfach. All die Jahre hat die Abtei einer Zauberin Zuflucht gewährt, und sie hat es mit Mord und heidnischem Götzendienst vergolten. Sie wird ihre gerechte Strafe erhalten. Eure Aufgabe ist hiermit erfüllt.«
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