»Würdet Ihr dafür sorgen, daß ihm das ausgehändigt wird? Er bat darum, es aus unserer Bibliothek ausleihen zu dürfen, und ich wurde beauftragt, es ihm zu bringen.«
»Ich werde es mit Vergnügen weitergeben, Schwester.«
Fidelma streckte die Hand aus und fing das Päckchen mühelos ab, bevor Adnar es an sich nehmen konnte. Sie wickelte es aus und starrte auf die Pergamenthandschrift.
»Das ist Ja eine Kopie der Chroniken von Clon-macnoise, der großen Abtei, die vom Heiligen Kieran gegründet wurde.«
Sie hob den Blick und sah einen ängstlichen Ausdruck in Schwester Lerbens Gesicht. Adnar lächelte.
»Ich wußte gar nicht, daß der junge Torcan sich so für Geschichte interessiert«, sagte er. »Ich muß mich mit ihm mal darüber unterhalten.«
Er streckte die Hand nach dem Buch aus, doch Fidelma blätterte die Pergamentseiten durch. Auf einem Blatt hatte sie Flecken entdeckt, rote, erdige Flecken. Sie konnte gerade noch erkennen, daß die Seite eine Eintragung über den Oberkönig Cormac Mac Art enthielt, bevor Adnar ihr das Buch freundlich, aber bestimmt aus der Hand nahm und wieder in das Tuch einwickelte.
»Hier ist nicht der Ort, um Bücher zu lesen«, bemerkte er scherzhaft. »Es ist viel zu kalt. Macht Euch keine Sorgen, Schwester«, wandte er sich an Lerben, »ich werde dafür sorgen, daß das Buch sicher bei Tor-can ankommt.«
Fidelma erhob sich und begann Blätter, Zweige und vermoderte Rindenstücke von ihrem Gewand zu wischen.
»Kennt Ihr Torcan denn gut? Es ist ein weiter Weg vom Land der Ui Fidgenti hierher.«
Adnar verstaute das Buch unter seinem Arm.
»Ich kenne ihn kaum. Er war Gast auf Gulbans Festung und kam jetzt als Olcans Gast hierher, hauptsächlich zum Jagen und um einige der Stätten unserer Väter zu besuchen, für die unsere Gegend berühmt ist.«
»Ich hätte nicht gedacht, daß die Ui Fidgenti dem Volk der Loigde willkommen sind.«
Adnar stieß ein trockenes Lachen aus.
»Es gab eine Reihe von Kriegen zwischen uns, das läßt sich nicht leugnen, doch es ist wohl an der Zeit, alte Streitigkeiten und Vorurteile zu überwinden.«
»Ganz meiner Meinung«, erwiderte Fidelma. »Aber wir wissen schließlich beide, daß Eoganan, der Prinz der Ui Fidgenti, sich in vielen Feldzügen gegen die Loigde verschworen hat.«
»Eroberungskriege«, pflichtete Adnar ihr bei. »Würde jeder sich auf sein Gebiet beschränken und nicht versuchen, sich in die Angelegenheiten anderer Stämme einzumischen, dann gäbe es keinen Grund zum Streit.« Er grinste verschlagen. »Aber Gott sei Dank wurden Kämpfer gebraucht, als ich ein junger Mann war, sonst wäre ich nie in meine jetzige Stellung aufgestiegen.«
Fidelma neigte den Kopf zur Seite und musterte ihn.
»Und jetzt nehmt Ihr, der Ihr Euern Wohlstand in den Kriegen gegen die Ui Fidgenti erworben habt, den Sohn des Prinzen dieses Stammes gastlich bei Euch auf?«
Adnar nickte, »Das ist nun mal der Lauf der Dinge. Die Feinde von gestern sind heute die besten Freunde, obwohl, wie ich betont habe, der junge Mann genaugenommen Olcans Gast ist und nicht meiner.«
»Und die Geschwister von gestern sind heute die erbittertsten Feinde«, fügte Fidelma leise hinzu.
Adnar zuckte mit den Schultern.
»Ich wünschte, es wäre anders, Schwester. Aber es ist eben nun mal so.«
»Na schön, Adnar. Ich danke Euch für Eure Aufrichtigkeit. Morgen erwarte ich Bruder Febal in der Abtei.«
Sie wandte sich an Schwester Lerben, die schüchtern daneben stand, als könne sie sich nicht entscheiden, ob sie gehen oder sich an der Unterhaltung beteiligen sollte. Fidelma betrachtete das Mädchen mit einem freundlichen Lächeln. Lerben war höchstens sechzehn oder siebzehn Jahre alt.
»Kommt, Schwester. Laßt uns zur Abtei zurückkehren, wir können uns unterwegs unterhalten.«
Sie drehte sich um und begann dem Pfad in die Richtung zu folgen, aus der sie gekommen war. Einen Augenblick später gesellte sich Lerben zu ihr, während Adnar neben seinem Pferd stand, gedankenverloren dessen Maul streichelte und beobachtete, wie sie zwischen den Bäumen verschwanden. Dann zog er das Buch unter seinem Arm hervor, wickelte es aus seiner Stoffhülle und starrte es verdrossen an. Er hing lange seinen Gedanken nach, bevor er es wieder einwickelte, in die Satteltasche steckte, die Zügel seines Schlachtrosses losband und aufstieg. Dann stieß er seine Fersen in die Flanken des Pferdes und ließ es den Waldweg entlang zu seiner Festung traben.
Schwester Fidelma war bereits wach, bevor die angstvolle Stimme die Dunkelheit durchschnitt. Das Drehen des Türgriffs an ihrer kleinen Kammertür hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Dank ihres unfehlbaren Gespüres für mögliche Gefahren war sie augenblicklich hellwach. Im Türrahmen stand ein Schatten. Es war mitten in der Nacht, nur der flüchtige Schein des Mondes erhellte den Raum und tauchte ihn in blaßblaues Licht. Die Kälte war beißend, und ihr Atem gefror zu weißen Wölkchen, während sie sich mühsam aufrichtete.
»Schwester Fidelma!« Die Stimme der hochgewachsenen Nonne klang wie ein verängstigter Schrei.
Fidelma erkannte sie trotz des unnatürlichen Tonfalls. Es war Äbtissin Draigen.
Augenblicklich saß Fidelma aufrecht im Bett und griff nach Feuerstein und Zunder, um das Talglicht anzuzünden.
»Mutter Oberin? Was ist los?«
»Ihr müßt sofort mitkommen.« Draigens Stimme versagte, sie konnte ihre Erregung kaum verbergen.
Fidelma hatte die Kerze angezündet und wandte sich nun der Äbtissin zu.
Die war vollständig angekleidet, und selbst im gelblichen Kerzenschein wirkte ihr Gesicht kreidebleich und schreckverzerrt.
»Ist etwas passiert?« Im gleichen Augenblick wurde Fidelma bewußt, daß ihre Frage überflüssig war. Ohne eine Antwort abzuwarten, sprang sie aus dem Bett. Nun, da sie begriff, daß etwas Furchtbares geschehen war, spürte sie die Kälte nicht mehr. »Was ist passiert?«
Die Äbtissin zitterte am ganzen Körper, allerdings vor Angst und Schrecken und weniger wegen der nächtlichen Kälte. Sie schien unter Schock zu stehen und war nicht in der Lage, eine zusammenhängende Antwort zu geben.
Fidelma warf ihren Umhang über und schlüpfte in ihre Schuhe.
»Geht voraus, Mutter Oberin«, befahl sie ruhig. »Ich folge Euch.«
Die Äbtissin zögerte nur einen Augenblick, dann drehte sie sich um und wandte sich zum Innenhof. Draußen war es fast taghell, denn es war Neuschnee gefallen, der jetzt im Mondlicht leuchtete.
Fidelma blickte zum Himmel und erkannte an der Stellung des Mondes sofort, daß es mehrere Stunden nach Mitternacht war. Bis zur Dämmerung würde es jedoch noch einige Zeit dauern. Die nächtliche Ruhe schien vollkommen. Nur das Knirschen ihrer Lederschuhe auf dem gefrorenen Schnee störte die Stille der Nacht.
Fidelma bemerkte, daß sie die Richtung zum Turm eingeschlagen hatten.
Schweigend folgte sie der Äbtissin, in der einen Hand die Kerze, die andere als Schutz vor einem plötzlichen Windstoß vor die Flamme haltend, doch es war trotz der Kälte so windstill, daß die Flamme kaum flackerte.
Die Äbtissin betrat den Turm. Die Bibliothek lag im Dunkel, doch sie eilte zum Fuß der Treppe, die in die oberen Stockwerke führte, ohne abzuwarten, bis Fidelma ihr leuchtete. Sie stiegen eilig in den dritten Stock hinauf, in das Skriptorium. Am Fuße des nächsten Treppenabsatzes, von wo man in das Stockwerk mit der Wasseruhr gelangte, bemerkte Fidelma eine erloschene Kerze und einen Kerzenhalter, die auf dem Boden lagen, als hätte sie jemand achtlos weggeworfen. Draigen blieb so plötzlich stehen, daß Fidelma beinahe mit ihr zusammengestoßen wäre. Im Licht der flackernden Kerze wirkte Draigens Gesicht gespenstisch, doch allmählich schien sie ihre Fassung wiederzugewinnen.
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