»Nein. Ich weiß nichts Genaues über die Geschichte, aber Draigen geriet mit dem Gesetz in Konflikt und mußte schließlich Schadensersatz leisten. Zu diesem Zweck verkaufte sie das armselige Stück Land und trat in die Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen ein. Der Verlust des Landes hat mich sehr verärgert, das will ich nicht leugnen. Ich hätte einen Teil davon geerbt. Also machte ich meinen Anspruch auf meinen Anteil an dem Land gerichtlich geltend, aber meine Klage wurde von einem Brehon abgewiesen.«
»Ich verstehe. Und diese Klage war der Grund für Eure Feindschaft?«
Adnar zuckte mit den Schultern.
»Ich nahm ihr übel, was sie getan hatte, doch ich war Ja inzwischen zu Wohlstand gekommen und brauchte das Land nicht unbedingt. Es ging mir ums Prinzip. Nein, der Haß kam ursprünglich von Drai-gens Seite. Vielleicht haßte sie mich wegen der Klage. Danach ging sie mir aus dem Weg. Als ich dann bo-aire in diesem Bezirk wurde, war sie gezwungen, wieder Umgang mit mir zu pflegen. Sie schickt jedoch immer Dritte zu mir. Ihr Haß gegen mich ist unversöhnlich.«
»Hat Draigen Euch einen Grund für ihren Haß genannt?«
»O Ja. Sie gibt mir die Schuld am Tod unserer Eltern. Aber das klingt für mich nicht glaubwürdig. Vielleicht hat sie mir einfach übelgenommen, daß ich vor Gericht gegen sie klagte. Was auch immer der ursprüngliche Grund war, mit den Jahren ist ihr Haß nur noch stärker geworden.«
»Sie bestreitet das und behauptet, Ihr wäret derjenige, der sie haßt. Deshalb frage ich Euch noch einmal, ist es inzwischen so, daß Ihr Draigens Haß erwidert?« Fidelma erkannte, daß sie es mit zwei einander widersprechenden Aussagen zu tun hatte, die keinen Raum für Kompromisse ließen.
»Zuerst fühlte ich mich verletzt, dann wurde ich wütend auf sie. Ich glaube aber nicht, daß ich sie jemals richtig gehaßt habe. Natürlich waren da die Geschichten, die über Draigen kursierten. Ich hörte von ihrer Vorliebe für junge Novizinnen. Dann, als ich erfuhr, daß der Leichnam einer jungen Frau im Brunnen entdeckt worden war, fürchtete ich das Schlimmste.«
»Warum?«
Zum ersten Mal hob er den Kopf und blickte ihr direkt in die Augen.
»Warum?« wiederholte er, als hätte er die Frage nicht verstanden.
»Warum solltet Ihr daraus den Schluß ziehen, daß Eure Schwester, Eure eigene Schwester, das Mädchen aufgrund einer verbotenen Beziehung ermordet hatte? Ich kann da keinen Zusammenhang erkennen. Zumindest nicht anhand dessen, was Ihr mir bisher erzählt habt.«
Adnar schien sich in seiner Haut nicht ganz wohlzufühlen, während er über ihre Worte nachdachte.
»Es stimmt, daß ich Euch keinen wirklich logischen Grund nennen kann. Ich habe einfach das Gefühl, daß alles auf furchtbare Weise zusammenpaßt.«
»Hat Euer anam-chara, Bruder Febal, Euch diese Erklärung nahegelegt?«
Die Frage kam scharf und direkt.
Adnar zuckte zusammen.
Fidelma erkannte an der leichten Röte, die ihm ins Gesicht stieg, daß sie mit ihrer Vermutung ins Schwarze getroffen hatte.
»Seit wann kennt Ihr Bruder Febal?«
»Seit ich zurückgekehrt und hier bo-aire geworden bin.«
»Und was wißt Ihr über seine Vergangenheit?«
»Früher war die Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen eine gemischtgeschlechtliche Gemeinschaft, ein conhospitae, wie man das nennt. Bruder Febal war einer der Mönche, die dort lebten. Febal und Draigen heirateten. Unter der früheren Oberin, Äbtissin Mar-ga, war Febal der Pförtner der Gemeinschaft. Dann wurde meine Schwester zur rechtaire ernannt, zur Verwalterin, das ist, wie Ihr wißt, das zweithöchste Amt nach der Äbtissin. Soviel ich weiß, war die Be-ziehung zwischen Draigen und Febal von einem Tag auf den anderen beendet. Draigen nutzte die Gebrechlichkeit und das hohe Alter der Äbtissin aus. Sie begann alle männlichen Mitglieder aus der Abtei zu vertreiben und sie in ein Kloster ausschließlich für Nonnen umzuwandeln. Bruder Febal war der letzte, der aus seiner Stellung verdrängt wurde, und kam dann als geistlicher Berater zu mir. Kurz darauf starb die alte Äbtissin. Ich war nicht überrascht, als ich erfuhr, daß meine Schwester zu ihrer Nachfolgerin ernannt worden war.«
»Ihr wollt andeuten, daß Draigen rücksichtslos und ehrgeizig ist?«
»Darüber mögt Ihr Euch selbst ein Urteil bilden.«
»Gut. Außerdem behauptet Ihr, daß Bruder Febal allen Grund hat, Draigen zu hassen. Allen Grund, Feindschaft zwischen Euch und ihr zu entfachen, und allen Grund, Gerüchte über die Entdeckung des Leichnams in Umlauf zu setzen.«
»Aus der Sicht einer Außenstehenden mag das durchaus so erscheinen«, gab Adnar zu. »Ich werde nicht versuchen, Euch von meiner Meinung zu überzeugen. Der einzige Grund, warum ich Euch bei Eurer Ankunft gestern noch vor Draigen sprechen wollte, war der Wunsch, Euch vor bestimmten Dingen zu warnen und Euch zu bitten, die Richtungen, die ich angedeutet habe, weiterzuverfolgen. Ob Ihr Euch dazu entschließt oder nicht, ist allein Eure Sache. Ihr seid eine Advokatin der Gerichtsbarkeit, und lautet Euer Schlachtruf nicht quaere verum?«
»Die Wahrheit zu suchen - das ist der wichtigste Grundsatz unseres Handelns, nicht unser Schlachtruf«, verbesserte sie ihn schulmeisterlich. »Darum werde ich mich nach Kräften bemühen. Aber eine Anschuldigung ist noch keine Wahrheit. Ein Verdacht ist keine Tatsache. Ich werde noch mal mit Bruder Febal reden müssen.«
Adnar fuhr sich mit der Hand durch die schwarze Lockenmähne.
»Ihr könnt gerne mit mir in die Festung kommen, obwohl ich nicht sicher bin, ob Febal jetzt dort ist. Als ich losritt, wollte er, glaube ich, Torcan und seine Männer zu einem Wallfahrtsort jenseits des Berges begleiten.«
»Wann wird er zurückkehren?«
»Mit Sicherheit erst spät am Abend.«
»Dann spreche ich morgen mit ihm. Sagt ihm, er soll in die Abtei kommen.«
Adnar blickte verlegen drein.
»Wahrscheinlich wird er das nur ungern tun. Drai-gen würde ihn nicht gerade willkommen heißen.«
»In dieser Angelegenheit haben meine Wünsche mehr Gewicht als Draigens«, antwortete Fidelma kalt. »Er kann mich nach dem Morgenmahl im Gästehaus treffen. Ich erwarte ihn dort.«
»Ich werde es ihm mitteilen«, seufzte Adnar.
Plötzlich hob er den Kopf und schien angestrengt zu lauschen. Einen Augenblick später hörte auch Fidelma das Knirschen von Schuhen auf dem gefrorenen Boden und drehte sich um. Auf dem Waldweg näherte sich die Gestalt einer Nonne, den Kopf gebeugt und in eine Kapuze gehüllt, einen sacculus über die Schulter gehängt. Sie sah Adnar und Fidelma erst, als sie nur noch wenige Meter entfernt war und Fidelma sie begrüßte.
»Guten Tag, Schwester.«
Das Mädchen blieb stehen und blickte erschrocken auf. Fidelma erkannte sie sofort. Es war die junge Schwester Lerben.
»Guten Tag«, murmelte sie.
Adnar erhob sich mit einem Lächeln.
»Es scheint bei den Nonnen aus der Abtei Ja geradezu zur Gewohnheit zu werden, heute diesen Pfad entlangzuwandeln«, bemerkte er mit ironischem Unterton. »Ist es hier nicht gefährlich, Schwester, so ganz allein? Es wird bald dunkel.«
Lerbens Augen funkelten vor Zorn, dann senkte sie den Blick.
»Ich bin auf dem Weg zu ...«, sie zögerte und schielte zu Fidelma hinüber, »zu Torcan von den Ui Fidgenti.« Ihre Hand wanderte automatisch zu ihrem sacculus.
Adnar lächelte weiter und schüttelte den Kopf.
»Tja, gerade habe ich Schwester Fidelma erklärt, daß Torcan meine Festung verlassen hat und erst heute abend wiederkommt. Kann ich ihm eine Nachricht überbringen?«
Schwester Lerben zögerte erneut, nickte dann rasch und zog einen kleinen, länglichen Gegenstand, der in ein Stück Stoff gewickelt war, aus ihrem sacculus.
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