»Ihr solltet Euch wappnen, Schwester. Der Anblick, der Euch bevorsteht, ist alles andere als angenehm.« Das waren die ersten Worte, die Draigen von sich gab, seit sie Fidelma aus dem Schlaf gerissen hatte.
Ohne weitere Erklärung drehte sie sich um und erklomm die Stufen.
Fidelma schwieg. Sie spürte, daß es nichts zu sagen gab, bevor sie die Bedeutung dieses nächtlichen Ausflugs nicht kannte.
Sie folgte der Äbtissin in den Raum mit der Klepsydra.
Das Feuer verbreitete einen weichen rötlichen Schein, das Wasser in der großen Bronzeschale dampfte wie immer. Außerdem brannten hier zwei Laternen, deren Licht ihre Kerze überflüssig machte.
Kaum hatte Fidelma den Raum betreten, da sah sie den Körper ausgestreckt auf dem Boden liegen. Daß es sich um eine Frau handelte, die das Gewand einer Schwester dieser Gemeinschaft trug, bedurfte keines näheren Hinsehens. Soviel war auf den ersten Blick klar.
Äbtissin Draigen sagte nichts, sondern blieb einfach an der Seite stehen.
Fidelma setzte ihre Kerze vorsichtig auf einer Bank ab und trat näher. Obwohl sie schon viele Tote gesehen hatte, die durch Gewalt ums Leben gekommen waren, konnte sie nicht verhindern, daß sie vor Abscheu am ganzen Leib zitterte.
Der Kopf des Leichnams war abgetrennt. Er war nirgends zu sehen.
Die Tote hätte mit dem Gesicht nach unten gelegen, hätte sie noch ein Gesicht gehabt. Die Arme waren zur Seite gestreckt. Fidelma bemerkte sofort, daß die rechte Hand ein kleines Kruzifix umklammerte und um den linken Arm ein kurzer Stab aus Espenholz mit Schriftzeichen in Ogham gebunden war. Um den durchtrennten Hals herum war alles blutverschmiert. Das Blut war noch frisch, rot und klebrig. Eine zweite Blutlache sickerte unter der Brust der Toten hervor.
Fidelma atmete tief ein und langsam wieder aus.
»Wer ist das?« fragte sie die Äbtissin.
»Schwester Siomha.«
Fidelma blinzelte kurz.
»Wieso seid Ihr da so sicher?«
Die Äbtissin stieß einen erstickten Laut aus, der ein kurzes, schroffes, zynisches Lachen hatte werden sollen.
»Ihr habt uns erst vor kurzem einen Vortrag darüber gehalten, Schwester, wie man einen Leichnam an anderen Merkmalen als dem Gesicht erkennen kann. Das sind ihre Gewänder. Am linken Bein findet Ihr eine Narbe, die von einem Sturz herrührt. Außerdem war sie für das erste cadar des Tages für die Beaufsichtigung der Wasseruhr eingeteilt. An all diesen Dingen erkenne ich, daß es sich um Siomha handelt.«
Fidelma preßte die Lippen zusammen und bückte sich. Sie hob den Saum des Rockes an und sah die Narbe, wo einst im weißen Fleisch des linken Beines eine tiefe Wunde geklafft haben mußte. Dann drehte Fidelma den Leichnam auf die Seite und musterte ihn von vorne. Aufgrund der Blutmenge und der zerschnittenen Kleidung nahm sie an, daß Siomha zuerst durch einen Stich ins Herz getötet und dann enthauptet worden war. Behutsam ließ sie die Tote wieder in ihre ursprüngliche Lage gleiten. Sie warf einen Blick auf die Hände der Leiche und war nicht überrascht, als sie den bräunlich-roten Lehm an den Fingern und unter den Nägeln entdeckte. Dann band sie den Stab aus Espenholz los und las die Inschrift in Ogham.
»Die Morrigan ist erwacht!«
Mit dem Stab in der Hand richtete sie sich auf und sah Draigen stirnrunzelnd an.
Die Äbtissin hatte sich noch nicht ganz vom Schrecken erholt. Ihre Augen waren gerötet, das Gesicht bleich, der Mund verzerrt. Beinahe tat sie Fidelma leid.
»Wir müssen miteinander reden«, sagte sie sanft. »Bleiben wir hier oder möchtet Ihr lieber anderswo hingehen?«
»Wir müssen die anderen wecken«, entgegnete Draigen.
»Zuerst die Fragen.«
»Dann wäre es besser, wenn Ihr Eure Befragung gleich hier durchführt.«
»Wie Ihr wünscht.«
»Eines möchte ich Euch gleich sagen«, fuhr Draigen fort, bevor Fidelma ihre erste Frage formulieren konnte. »Ich habe die Zauberin, die diese Tat begangen hat, bereits erwischt.«
Fidelma überspielte ihr ungläubiges Staunen.
»Tatsächlich?«
»Es war Schwester Berrach. Ich habe sie auf frischer Tat ertappt.«
Fidelma konnte ihr Erstaunen nicht verbergen. Äbtissin Draigens Ankündigung verschlug ihr die Sprache.
»Ich denke«, sagte Fidelma nach einer übermäßig langen Pause, »ich denke, Ihr solltet mir zuerst alles der Reihe nach erzählen.«
Äbtissin Draigen ließ sich unvermittelt auf den Stuhl sinken. Sie wandte den Blick von der Toten ab und heftete ihn auf einen Punkt weit draußen, wo vor dem Fenster das Mondlicht auf dem Wasser glänzte und die dunklen Umrisse des gallischen Handelsschiffes beschien, das in der Meerenge vor Anker lag.
»Ich habe Euch erzählt, daß Schwester Siomha die Wache über die Klepsydra übernommen hatte, und zwar für das erste cadar, das erste Viertel des Tages, das heißt, von Mitternacht bis zum morgendlichen Ängelus.«
Fidelma stellte keine Frage. Schwester Bronach hatte ihr die Funktionsweise der Wasseruhr bereits erklärt.
»Ich fand keine Ruhe und spürte eine eigenartige Beklemmung. Was, wenn Eure Vermutung stimmte und unseren zwei Schwestern auf dem Heimweg von Ard Fhearta etwas Schreckliches zugestoßen war? Ich konnte nicht einschlafen. Und weil ich nicht schlafen konnte, fiel mir auf, daß seit dem letzten Gongschlag, der nach Ablauf jedes Zeitabschnittes ertönen sollte, eine überaus lange Zeitspanne verstrichen war.«
Die Äbtissin hielt kurz inne, dachte einen Augenblick nach und fuhr dann fort.
»Mir wurde bewußt, daß der Gong schon einige Zeit nicht mehr zu hören gewesen war. Das paßte gar nicht zu Schwester Siomha, die in solchen Dingen normalerweise sehr pedantisch ist. Ich stand auf, kleidete mich an und ging zum Turm, um herauszufinden, was da nicht stimmte.«
»Hattet Ihr eine Kerze bei Euch?« unterbrach sie Fidelma.
Die Äbtissin runzelte bei dieser Frage unsicher die Stirn und nickte dann hastig.
»Ja, Ja. Ich hatte in meinen Gemächern eine Kerze angezündet und benutzte sie, um mir auf dem Weg durch den Innenhof zu leuchten. Ich betrat den Turm und stieg durch die Bibliothek hinauf in das Skriptorium. Als ich gerade weiter hinaufsteigen wollte, verspürte ich den Drang, nach Schwester Siomha zu rufen. Es war so still. Ich fühlte, daß irgend etwas nicht in Ordnung war, und deshalb rief ich sie.«
»Erzählt weiter«, drängte Fidelma, als sie zögerte.
»Einen Augenblick später kam ein dunkler Schatten die Treppe heruntergestürmt. Das geschah so plötzlich, daß ich beiseitegestoßen wurde und mir die Kerze aus der Hand flog. Die Fliehende drängte sich an mir vorbei und verschwand.«
»Was dann?«
»Ich stieg die Treppe weiter hinauf bis in diesen Raum.«
»Ohne Kerze?«
»Ich sah, daß die Laternen brannten, genau wie jetzt. Dann erblickte ich Schwester Siomhas Leichnam.«
»Die Leiche ohne Kopf, die auf dem Boden lag?«
Äbtissin Draigen wurde plötzlich wütend.
»Die Person, die auf der Treppe an mir vorbeistürmte, war Schwester Berrach. Daran gibt es keinen Zweifel. Da Ihr Berrach kennt, wißt Ihr auch, daß man sie unmöglich mit jemand anderem verwechseln kann.«
Fidelma hätte durchaus einräumen können, daß Draigen in diesem Punkt recht hatte, aber sie wollte sichergehen.
»Das ist es Ja gerade, was mich verwirrt. Ihr sagtet, Schwester Berrach >kam die Treppe heruntergestürmt< - das waren Eure Worte -, aber wir beide wissen, daß sie an einer Gehbehinderung leidet. Seid Ihr sicher, daß es Berrach war? Vergeßt nicht, daß Euch die Kerze aus der Hand fiel und daß die betreffende Person sich im Dunkeln an Euch vorbeidrängte.«
»Vielleicht habe ich in der Aufregung eine falsche Formulierung benutzt. Die Fliehende bewegte sich zwar recht behende, aber trotzdem würde ich ihre unförmige Gestalt überall erkennen.«
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