»Aber mir gegenüber seid Ihr ehrlich. Warum könnt Ihr das nicht auch gegenüber anderen sein?«
Wieder verzog Schwester Berrach den Mund.
»Ich bin Euch gegenüber ehrlich, weil Ihr hinter den Vorhang aus Vorurteilen schaut, wo andere nicht hingucken.«
»Ihr schmeichelt mir.«
»Schmeichelei ist nicht meine Art.«
»Erzählt mir, was passiert ist.«
»Heute nacht?«
»Ja. Äbtissin Draigen sah Euch aus dem Raum kommen, in dem die Wasseruhr steht. Schwester Siomha wurde, wie Ihr wißt, enthauptet in jenem Raum gefunden. Ihr hattet es eilig und habt die Äbtissin beiseitegestoßen, so daß ihre Kerze herunterfiel und erlosch.« Fidelma betrachtete Schwester Berrachs Kleidung. »Vorne auf Eurem Habit ist ein dunkler Fleck, Schwester. Ich nehme an, es handelt sich um Siomhas Blut?«
Die wachsamen blauen Augen blickten Fidelma ernst an.
»Ich habe Schwester Siomha nicht ermordet.«
»Ich glaube Euch. Wollt Ihr mir vertrauen und mir genau erzählen, was passiert ist?«
Schwester Berrach breitete in einer fast rührenden Geste die Arme aus.
»In der Abtei hier hält man mich für einfältig, nur weil ich körperlich behindert bin. Ich wurde schon so geboren. Probleme mit der Wirbelsäule, haben die Heilkundigen meiner Mutter erklärt. Aber mein Körper und meine Arme sind stark. Nur meine Beine sind nicht richtig gewachsen.«
Schwester Berrach hielt inne, doch Fidelma erwiderte nichts und wartete, bis das Mädchen weitersprach.
»Zuerst sagte der Heilkundige, so könnte ich nicht leben, und dann sagte er, so sollte ich nicht leben. Meine Mutter konnte mich in ihrer Gemeinschaft nicht aufziehen. Mein Vater wollte nichts mit mir zu tun haben. Nach meiner Geburt hat er meine Mutter verlassen. Also wuchs ich bei meiner Großmutter auf, doch sie wurde getötet, als ich noch klein war. Ich überlebte und wurde im Alter von drei Jahren in diese Abtei gebracht, und hier kümmerte sich Bronach um mich. Ich blieb am Leben, und ich lebe immer noch. Die Gemeinschaft war mein Zuhause, so lange ich zurückdenken kann.«
In ihrer Stimme lag ein leises Schluchzen. Jetzt verstand Fidelma, warum Schwester Bronach sich immer schützend vor das Mädchen stellte.
»Nun erzählt mir, was im Turm geschehen ist«, drängte sie freundlich.
»Jede Nacht, vorm Morgengrauen, wenn die meisten hier noch schlafen, stehe ich auf und gehe in die Bibliothek«, gestand Berrach. »Dann widme ich mich dem Lesen. Ich kenne schon fast alle bedeutenden Bücher aus unserem Bestand.«
Fidelma war verwundert.
»Warum wartet Ihr bis zum Morgengrauen, um zum Lesen in die Bibliothek zu gehen?«
Berrach lachte. Es klang jedoch alles andere als fröhlich.
»Sie halten mich für einfältig und glauben, daß ich nicht denken kann, geschweige denn lesen. Ich habe mir selbst beigebracht, meine Muttersprache zu lesen, aber ich verstehe auch Latein, Griechisch und sogar etwas Hebräisch.«
Fidelma musterte sie nachdenklich, doch das Mädchen schien keineswegs angeben zu wollen, sondern einfach Tatsachen festzustellen. Ein abwegiger Gedanke schoß Fidelma durch den Kopf.
»Wußtet Ihr, daß die Abtei eine Kopie der Chroniken von Clonmacnoise besitzt?«
Schwester Berrach nickte sofort.
»Es ist eine Kopie, die unsere Bibliothekarin angefertigt hat«, ergänzte sie bereitwillig.
»Habt Ihr sie gelesen?«
»Nein. Aber viele andere Bücher.«
»Erzählt weiter«, seufzte Fidelma enttäuscht. »Ihr sagtet, daß Ihr vorm Morgengrauen aufsteht und in die Bibliothek geht. Fürchtet Ihr Euch nicht, ganz allein an so einem Ort?«
»Eine Schwester tut stets Dienst im Turmzimmer darüber. In letzter Zeit«, sie zitterte, »war es Schwester Siomha, die die meisten Nachtwachen übernahm. Vor den jüngsten Ereignissen bestand keinerlei Gefahr für Leib und Leben, nichts, wovor man sich dort zu fürchten brauchte.«
Fidelma verzog das Gesicht.
»Es ging mir nicht um Gefahren für Leib und Leben. Was ist mit dem Klopfen unter der duirthech, das die Schwestern am Vortag erschreckte? Mir wurde berichtet, daß es schon früher zu hören war.«
Schwester Berrach überlegte einen Augenblick.
»Ja, aber nicht oft. Äbtissin Draigen sagt, die Geräusche kommen aus einer unterirdischen Höhle, in die Meerwasser einströmt, aber manchmal macht es den Schwestern Angst. Ich fürchte mich nicht, und wer ein guter Christ ist, braucht davor keine Angst zu haben.«
»Sehr lobenswert, Schwester. Haltet Ihr die Erklärung der Äbtissin für richtig, daß das Geräusch entsteht, wenn Wasser aus der Meerenge in eine unterirdische Höhle strömt?«
»Das ist durchaus eine Möglichkeit. Jedenfalls weitaus wahrscheinlicher als die Geschichten über die ruhelosen Geister all derer, die früher angeblich bei heidnischen Opferritualen an diesem Ort getötet wurden.«
»Aber Ihr seid Euch nicht sicher, daß es sich nur um Wasser in einer unterirdischen Höhle handelt?«
»Manchmal, wie vorgestern in der duirthech, scheint die Erklärung der Äbtissin durchaus überzeugend. Andere Male, besonders, wenn ich mich nachts in der Bibliothek aufhalte, klingt das Geräusch zwar schwächer, aber eher wie ein Schlagen, als würde jemand Steine behauen oder ein Loch ausheben. Doch was immer es auch sein mag, das Geräusch ist irdischen Ursprungs -wovor sollte ich mich also fürchten?«
»Recht so. Und heute morgen gingt Ihr wie gewöhnlich in die Bibliothek?«
»Ja, in den Stunden vor Tagesanbruch. Ich verhielt mich so leise wie möglich, denn ich wollte die Aufseherin der Wasseruhr nicht auf mich aufmerksam machen. Schon gar nicht Schwester Siomha, die mich stärker ablehnt als die meisten anderen.«
»Wann habt Ihr die Bibliothek heute morgen betreten? Könnt Ihr die Zeit möglichst genau angeben?«
»Soweit ich mich erinnere, hörte ich den Gong zur zweiten Stunde schlagen, und vielleicht noch zur ersten Viertelstunde danach, ich bin mir nicht ganz sicher. Die dritte Stunde war noch nicht vorbei, das weiß ich ganz genau, denn ich erinnere mich nicht, daß sie geschlagen wurde.«
»Erzählt weiter.«
»Ich betrat die Bibliothek und fand das Buch, das ich suchte ...«
»Welches?«
»Wollt Ihr den Titel des Buches wissen?« fragte Schwester Berrach stirnrunzelnd.
»Ja.«
»Der Reisebericht des Aethicus von Istrien. Ich trug das Buch zu einem kleinen Tisch in einer Ecke. Ich setze mich meistens dorthin: falls jemand unerwartet eintritt, bleibt mir noch Zeit, mich zu verstecken. Ich las gerade die Passage über Aethicus’ Aufenthalt in Irland, wo er sich eingehend mit unseren Bibliotheken beschäftigte, als mir auffiel, daß die Zeit verging, ohne daß der Gong ertönte, den die Aufseherin der Klepsy-dra schon längst hätte schlagen müssen. Ich trat zum Fuß der Treppe und horchte. Alles war ruhig. Zu ruhig.«
Berrach hielt inne und rieb sich einen Augenblick abwesend die Wange.
»Ich spürte, daß etwas nicht stimmte. Kennt Ihr das, wenn man plötzlich so ein Gefühl bekommt? Ich beschloß, hinaufzugehen, um nachzusehen ...«
»Obwohl Ihr nicht wolltet, daß jemand von Eurer Anwesenheit erfuhr, am allerwenigsten Schwester Siomha?«
»Falls etwas nicht stimmte, hielt ich es für besser, nicht darüber hinwegzusehen.«
»Und was habt Ihr mit dem Buch gemacht?«
»Ich ließ es auf dem Tisch zurück, wo ich es gelesen hatte.«
»Also muß es noch dort liegen? Sehr gut. Erzählt weiter.«
»Ich stieg so vorsichtig wie möglich die Treppe hinauf in den Raum, in dem sich die Klepsydra befindet. Ich dachte, ich sähe Schwester Siomha auf dem Boden liegen.«
»Ihr dachtet?« betonte Fidelma.
»Die Tote hatte keinen Kopf. Aber das erkannte ich nicht sofort. Ich sah nur eine Gestalt im klösterlichen Habit und kniete daneben nieder, um ihr den Puls zu fühlen. Ich nahm an, sie sei bewußtlos vielleicht ohnmächtig geworden, weil sie zuwenig gegessen hatte oder aus einem anderen Grund. Meine Hände berührten ihren Hals, kalt, nicht richtig eiskalt, aber feucht und klamm. Dann spürte ich etwas Klebriges. Ich tastete nach ihrem Kopf .«
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