»Ich bringe es gleich«, antwortete der Krieger.
Eadulf wartete geduldig, daß Fidelma das eben Gehörte kommentierte, doch sie schwieg beharrlich. Also sagte er: »Ich glaube, die Beweislage ist ziemlich klar. Augenzeugen haben Moen mit dem Messer ertappt. Da bleibt wohl nicht mehr viel zu untersuchen. So leid einem Moen auch tut, er ist der Mörder.«
»Ganz im Gegenteil, Eadulf. Ich meine, die Aussagen unterstützen die Annahme, daß Moen nicht die Morde begangen hat, die man ihm zur Last legt«, widersprach ihm Fidelma.
Nachdem Duban mit dem Ersuchen um eine Unterredung zu Ebers Witwe Cranat geschickt worden war, brachte er den Bescheid, daß sie sich in einer halben Stunde in der Festhalle mit Fidelma und Eadulf treffen würde.
Cron war schon da, als sie eintraten, und saß in ihrem Amtssessel. Vor ihr, unmittelbar unterhalb des Podiums, standen dieselben Stühle wie zuvor. Fidelma bemerkte, daß ein weiterer Stuhl neben Crons Amtssessel aufgestellt worden war. Fidelma und Eadulf hatten kaum ihre Plätze eingenommen, als eine Frau in kerzengrader Haltung und mit einer starren, unnachgiebigen Miene eintrat. Sie blickte nicht in ihre Richtung und gab kein Zeichen der Begrüßung von sich, sondern ging zu dem leeren Stuhl und setzte sich neben ihre Tochter.
Für eine Frau nahe fünfzig war Cranat noch schön zu nennen. Sie hatte sich ihre Figur bewahrt. Es lag etwas Aristokratisches in ihrem ovalen Gesicht, ihrem hellen, zarten Teint. Ihr goldenes Haar zeigte keine Spur von Grau und fiel ihr lang über die Schultern. Ihre Hände waren wohlgeformt und schlank. Fidelma sah, daß die Nägel sorgfältig geschnitten und poliert und künstlich rot gefärbt waren. Beerensaft half dem Schwarz ihrer Brauen nach, und auf ihren Wangen lag ein Hauch von ruam, dem rötlichen Saft der Zweige und Beeren des Holunders. Mit Parfüm hatte Cranat auch nicht gespart. Ein schwerer Rosenduft umgab sie. Cranat hatte eine königliche Haltung eingenommen.
Sie trug ein Kleid aus roter Seide, mit Gold besetzt, und dazu Armbänder aus Silber und heller Bronze und ein goldenes Halsband. Cranat besaß offensichtlich Reichtümer, und ihre Haltung bewies, daß sie von höherem Rang war und nicht einfach nur die Frau des Fürsten von Araglin.
Fidelma wartete ein paar Augenblicke, ob Cranat sie wenigstens mit einem Blick begrüßen würde.
Schließlich war es Cron, die Tanist, die das Schweigen brach. Sie sprach, ohne sich von ihrem Sessel zu erheben.
»Mutter, dies ist Fidelma, die Anwältin, die gekommen ist, um das Urteil über Moen zu sprechen.«
Erst jetzt hob Cranat den Kopf, und Fidelma blickte in dieselben kalten blauen Augen wie die der Tochter Cranats, Cron.
»Meine Mutter«, fuhr Cron fort, »Cranat von den Deisi.«
Fidelma verzog keine Miene. Diese Vorstellung erklärte die Haltung Cranats. Der Legende nach war während des Großkönigtums von Cormac mac Airt die Sippe der Deisi aus ihrem angestammten Land um Tara herum verbannt worden. Einige von ihnen waren ins Land der Briten geflohen, andere hatten sich im Königreich Muman angesiedelt und sich in zwei Sippen geteilt, die nördlichen und die südlichen Deisi. Wenn Cron ihre Mutter als »von den Deisi« vorstellte, bedeutete das, daß Cranat die Tochter eines Fürsten ihres Stammes war. Doch selbst das entschuldigte nicht die Art, wie sie es unterlassen hatte, Fidelma zu begrüßen. Ärger rötete Fidelmas Gesicht. Einmal hatte sie diese Kränkung ihres Ranges und ihrer Stellung durchgehen lassen. Ein zweites Mal durfte sie das nicht tun, wenn sie diese Untersuchung in der Hand behalten wollte.
Anstatt sich zu setzen, trat sie ruhig auf das erhöhte Podium, also auf die gleiche Stufe mit Cron und Cranat.
»Eadulf, stelle einen Stuhl für mich hierher«, befahl sie kühl.
Die Entrüstung auf den Gesichtern Cranats und ihrer Tochter bewies, daß sie es nicht gewohnt waren, daß jemand ihre Autorität anzweifelte.
Eadulf unterdrückte ein belustigtes Lächeln, denn er wußte, wie Fidelma die Etikette durchzusetzen verstand, wenn sie nicht beachtet wurde. Rasch nahm er einen Stuhl und stellte ihn auf den Platz, auf den Fidelma deutete. Er wußte, wie wenig sich Fidelma normalerweise aus Rechten und Privilegien machte. Nur wenn andere Leute die Etikette benutzten, um zu Unrecht Autorität zu beanspruchen, wies Fidelma sie streng zurecht.
»Schwester, du vergißt dich!«
Es war der erste Satz, den Cranat sprach, und zwar in entrüstetem Tonfall.
Fidelma hatte sich gesetzt und betrachtete die Witwe des Fürsten mit ausdrucksloser Miene.
»Was habe ich deiner Meinung nach vergessen, Cranat von Araglin?«
Ihre sanfte Betonung des Titels hatte ihre Bedeutung.
Cranat schluckte hörbar und konnte nicht antworten.
»Meine Mutter ist ...«, setzte Cron an, brach aber ab, als Fidelma sich ihr zuwandte. »Ach ...« Sie erkannte plötzlich, auf welchen Bruch der Etikette Fidelma sie aufmerksam gemacht hatte. Rasch wandte sie sich an ihre Mutter. »Ich habe vergessen, dir zu sagen, daß Schwester Fidelma nicht nur Anwältin ist, sondern auch die Schwester von Colgü von Cashel.«
Bevor Cranat das verdauen konnte, beugte sich Fidelma vor. Sie sprach höflich, doch mit fester Stimme.
»Lassen wir mal meine Herkunft und die Königswürde meines Bruders beiseite«, begann sie und hielt kurz inne, denn damit hatte sie bereits Cranats königliche Ansprüche erledigt, »so besitze ich den Rang eines anruth und darf in Anwesenheit des Großkönigs der fünf Königreiche sitzen und auf gleicher Ebene mit ihm sprechen.«
Cranats Mund wurde zu einem schmalen Strich. Ihre eiskalten Augen richteten sich auf einen anderen Punkt im Raum.
»Nun ...«, Fidelma lehnte sich zurück und lächelte fröhlich. Ihr Ton war angeregt. »Nun wollen wir diese langweiligen Fragen der Sitten und Gebräuche vergessen, denn wir haben eine wichtige Arbeit vor uns.«
Auch diesmal gab es keinen Zweifel daran, daß Fidelma Cranat und Cron wegen ihres hochfahrenden Verhaltens tadelte, und sie wußten es auch. Sie schwiegen, denn darauf gab es keine vernünftige Antwort.
»Ich muß dir ein paar Fragen stellen, Cranat.«
Die steif dasitzende Frau schnaubte. Sie brachte es nicht über sich, Fidelma anzuschauen.
»Das wirst du dann wohl auch tun«, antwortete sie humorlos.
»Wie ich erfahren habe, warst du es, die einen Boten zu meinem Bruder nach Cashel schickte mit der Anforderung, einen Brehon hierher zu entsenden. Ich habe gehört, du hättest das ohne Wissen und Zustimmung deiner Tochter getan, die hier Tanist ist. Warum das?«
»Meine Tochter ist noch jung«, sagte Cranat. »Sie hat keine Erfahrung in Rechtsprechung und Politik. Ich bin überzeugt, daß diese Angelegenheit angemessen geregelt werden muß, damit kein Makel an der Familie von Araglin haften bleibt.«
»Warum sollte das geschehen?«
»Die Art des Geschöpfes, das die Verbrechen begangen hat, und die Tatsache, daß er der Adoptivsohn von Lady Teafa ist, könnten Leute veranlassen, das Haus Araglin zu verleumden.«
Fidelma hielt das für eine plausible Erklärung.
»Kehren wir nun zu dem Morgen vor sechs Tagen zurück, als du vom Tode deines Gatten Eber erfuhrst.«
»Ich habe schon erklärt, was geschah«, warf Cron schnell ein.
Fidelma schnalzte ärgerlich mit der Zunge.
»Du hast mir die Ereignisse aus deiner Sicht geschildert. Jetzt frage ich deine Mutter.«
»Da gibt es nicht viel zu sagen«, meinte Cranat. »Ich wurde von meiner Tochter geweckt.«
»Zu welcher Zeit?«
»Gerade als die Sonne aufging, glaube ich.«
»Was geschah dann?«
»Sie sagte mir, daß Eber ermordet worden sei und daß Moen die furchtbare Tat begangen habe. Ich kleidete mich an und kam hierher in die Festhalle zu ihr. Dann brachte Duban die Nachricht, daß auch Teafa erstochen aufgefunden worden war.«
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