»Dann mußt du doch etwas gehört haben. Du mußt doch eine Ahnung haben, wodurch der Streit entstand?«
»Habe ich nicht. Ich erinnere mich, daß Moen erwähnt wurde und Eber auch. Teafa rief etwas von Scheidung.«
»Verlangte sie, daß Cranat sich von ihrem Bruder scheiden lassen sollte?«
»Vielleicht. Ich weiß es nicht. Cranat lief davon zur Kapelle und suchte Trost bei Pater Gorman.«
Fidelma stellte ihm keine weiteren Fragen, sondern sah sich im Schlafzimmer um und untersuchte es eingehend, ehe sie sich der Verbindungstür und dem Empfangszimmer zuwandte.
»Für einen Taubstummen und Blinden muß Moen eine seltene Gabe besitzen, um sich so leicht im rath zu bewegen.«
Eadulf trat stirnrunzelnd zu ihr.
»Wie meinst du das, Fidelma?« fragte er.
»Schau dir diese Zimmer an, Eadulf. Erst einmal mußte Moen herfinden. Dann mußte er eintreten, sich zu Ebers Zimmer tasten und hineingehen, das Messer an sich nehmen, sein Ziel finden und Eber töten, bevor der Fürst seine Anwesenheit bemerkte. Dazu gehört nicht nur eine Geschicklichkeit, die ich bei einem Menschen mit seinen Behinderungen nicht erwarte.«
Duban hatte das gehört und nahm es übel.
»Willst du die Tatsachen leugnen?« fragte er.
Fidelma sah ihn an.
»Ich will sie lediglich feststellen.«
»Nun, die Tatsachen sind einfach. Moen wurde auf frischer Tat ertappt.«
»Nicht ganz«, verbesserte ihn Fidelma. »Er wurde neben Ebers Leiche angetroffen. Er wurde nicht dabei gesehen, wie er ihn tatsächlich umbrachte.«
Duban warf den Kopf hoch und stieß ein kurzes hartes Lachen aus.
»Wahrhaftig, Schwester, ist das die Logik eines Brehon? Wenn ich ein Schaf mit aufgerissener Kehle finde und daneben einen Wolf mit blutiger Schnauze, ist es dann nicht logisch, den Wolf für die Tat verantwortlich zu machen?«
»Es ist verständlich«, gab Fidelma zu. »Aber es ist kein zwingender Beweis dafür, daß es der Wolf getan hat.«
Duban schüttelte ungläubig den Kopf.
»Willst du behaupten ...?«
»Ich will die Wahrheit herausfinden«, fuhr ihn Fidelma an. »Das ist meine einzige Aufgabe.«
»Nun, wenn du die Wahrheit wissen willst: Es ist im rath allgemein bekannt, daß Moen sich in bestimmten Teilen der Siedlung ohne große Schwierigkeiten bewegen kann.«
»Wie bringt er das fertig?« fragte Eadulf interessiert.
»Ich nehme an, er verfügt über eine Art von Gedächtnis. Er scheint seinen Weg auch riechen zu können.« »Riechen?« fragte Eadulf ungläubig.
»Ihr habt erlebt, wie ihm im Stall sein Geruchssinn verriet, daß Fremde da waren. Er hat einen Geruchssinn wie ein Tier entwickelt. Wenn man ihn in bestimmte Teile des rath bringt, kann er sich darin zurechtfinden. Das weiß jeder hier.«
»Dann ist es also keine Überraschung, daß er seinen Weg hierher finden konnte?«
»Überhaupt keine.«
Eadulf sah Fidelma an und zuckte die Achseln.
»Na, das scheint also kein Rätsel zu sein.«
Fidelma gab keine Antwort. Sie war nicht überzeugt.
»Wo ist das Messer, mit dem Moen Eber erstochen hat?«
»Das habe ich noch.«
»Hat man das Messer identifiziert?«
»Identifiziert?« erkundigte sich Duban verblüfft.
»Hat man festgestellt, wem das Messer gehört?«
»Ich glaube, es ist eins von Ebers Jagdmessern«, erwiderte Duban. Er wies auf eine Wand, an der eine ganze Sammlung von Schwertern und Messern sowie ein Schild hingen. Eine Messerscheide war leer. »Ich sah, daß eins der Messer fehlte, und nahm an, daß Moen es sich gegriffen hatte.«
Fidelma untersuchte die Stelle, auf die Duban gezeigt hatte. Dann wandte sie sich um und trat zur Haupttür. Dort stand sie einen Augenblick mit dem Rücken zur Tür und ging dann um mehrere Möbelstücke herum zu der Wand mit den Messern. Es war ein schwieriger und umständlicher Weg, weil Hindernisse dazwischen lagen. Schließlich langte sie nach der Scheide, drehte sich um und schritt um einen Tisch und eine Bank herum zur Schlafzimmertür.
Sie blieb einen Moment stehen und dachte nach.
»Das Messer möchte ich bald einmal sehen.«
Duban nickte.
»Gut. Und jetzt zeige uns, wo und wie Teafa gefunden wurde.«
Duban führte sie aus Ebers Wohnung hinaus und hinter den Ställen entlang. Der Weg wand sich um mehrere Vorratsgebäude herum, die neben einem Darrofen zum Trocknen von Getreide standen. Sie überquerten einen Hof mit einem Brunnen und kamen zu einer kleinen, mit Weidenflechtwerk gedeckten Hütte.
»Teafa hatte ihre eigene Hütte«, erklärte er ihnen unterwegs, »ein wenig abseits von der übrigen Familie des Fürsten.«
»Sagtest du, daß sie nie geheiratet hat?« vergewisserte sich Eadulf.
»Ja«, antwortete Duban. »Warum fragst du?«
Eadulf lächelte wissend.
»Es ist doch wohl ungewöhnlich, wenn die unverheiratete Schwester eines Fürsten außerhalb seines unmittelbaren Wohnbereichs lebt?«
»Sie wohnte immerhin im rath des Fürsten«, erwiderte Duban, der offensichtlich nicht wußte, worauf Eadulf hinauswollte.
Im Land der Angelsachsen galten Frauen als Besitz des männlichen Familienoberhauptes, bis sie heirateten, und erst dann war es ihnen gestattet, den Wohnsitz der Familie zu verlassen. Eadulf wurde plötzlich klar, daß das in den fünf Königreichen anders war.
»Bruder Eadulf meint«, schaltete sich Fidelma ein, »daß Teafas Hütte klein ist und am Rande des rath liegt, während sie doch erwarten konnte, größere Behaglichkeit innerhalb des Wohnbereichs des Fürsten zu genießen.«
Duban machte ein gleichgültiges Gesicht.
»Es war ihr eigener Wunsch. Ich erinnere mich, daß sie sich dafür entschied, kurz nachdem sie Moen zu sich genommen hatte.«
Teafas Hütte schien nur klein zu sein, doch als Fidelma eintrat, sah sie, daß sie in drei Zimmer unterteilt war. In einem großen Raum hatten Teafa und ihr Schützling offensichtlich gekocht und gegessen und ihn als allgemeinen Wohnraum benutzt. In den meisten Häusern dieser Größe nannte man das tech im-mdcallamae oder »Gesprächsraum«. Es war der übliche Sammelpunkt für die Familie und ihre Freunde. Zwei Türen führten zu Schlafräumen. Es war offenkundig, welcher Moen gehört hatte, denn er besaß kein Fenster, und das Licht, das durch die offene Tür fiel, enthüllte nur eine einfache Matratze auf dem Boden und keine Möbel.
Fidelma wollte sich schon abwenden, als ihr Blick auf etwas hinter der Tür von Moens Schlafraum fiel.
»Gibt es hier eine Kerze oder eine Lampe?« fragte sie.
Duban holte Feuerstein und Zunder von einem Seitentisch und hatte bald eine hohe Talgkerze entzündet.
Fidelma nahm die Kerze, ging in Moens Zimmer und untersuchte die Ecke hinter der Tür. Für ein ungeübtes Auge sah es wie Brennholz aus, was dort hoch aufgeschichtet lag, Bündel auf Bündel, mit Lederriemen zusammengebunden.
»Komm mal her, Eadulf«, rief Fidelma. »Was hältst du davon?«
Eadulf trat ein, gefolgt von Duban, der ihm über die Schulter schaute und nur Bündel von Stöcken erblickte.
»Ein merkwürdiger Platz für Brennholz«, bemerkte Duban.
Eadulf nahm ein Bündel in die Hand. Die Stöcke waren auf eine gleichmäßige Länge von etwa einem halben Meter geschnitten. Meist waren es Haselruten, doch gab es auch einige Eibenstöcke darunter. Eadulf untersuchte sie sorgfältig und öffnete ein Bündel, um sich die Stäbe genauer anzusehen. Schließlich wandte er sich mit einem wissenden Lächeln an Fidelma.
»Solche prachtvollen Exemplare findet man nicht oft außerhalb der großen Bibliotheken.«
Duban machte ein verblüfftes Gesicht.
»Was meint er denn, Schwester?«
Fidelma sah Eadulf so wohlwollend an wie eine Lehrerin einen klugen Schüler.
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