Fidelma wurde plötzlich von Mitleid mit ihm überwältigt, streckte die Hand aus und berührte seine Wange. Sie war feucht. Sie merkte, daß ihm Tränen herabliefen.
»Ich wünschte, ich könnte dir sagen, wie gut ich deine Enttäuschung verstehe, Moen«, flüsterte sie. »Ich wünschte, ich könnte mit dir sprechen, damit ich erfahre, was hier geschehen ist.«
Sie nahm seine Hand und drückte sie.
Moen schien den Kopf zu neigen, als habe ihn ihre Rührung erreicht.
Fidelma stand vorsichtig auf und ging zu Eadulf und Duban zurück.
Der Krieger schaute mit nachdenklicher Verwunderung auf die ruhig dasitzende Gestalt des Unglücklichen.
»Na, ich habe erlebt, daß Teafa ihn beruhigt hat, aber noch nie jemand anders.«
Fidelma schritt von der Box fort, gefolgt von Ea-dulf und Duban.
»Vielleicht liegt das daran, daß niemand anders ihn als ein menschliches Wesen behandelt«, meinte sie.
An der Tür des Stalles begegneten sie Critan. Er grinste sie an.
»Jetzt könnte man ihn sogar im Palast von Cashel vorzeigen, was?« meinte er und wies auf Moen.
Fidelma sah den jungen Krieger mit Mißfallen an. Sie würdigte ihn keiner Antwort.
Verächtlich fügte Critan hinzu: »Na, wenigstens sieht die Kreatur nett und sauber aus, wenn sie gehängt wird.«
»Gehängt? Wer sagt denn, selbst wenn er schuldig ist, daß seine Strafe auf Hängen lautet?« fragte Fidelma voller Zorn.
»Pater Gorman natürlich.« Der junge Mann blieb ungerührt. »Er sagt, wir sollten für ein Leben ein anderes nehmen.«
Fidelma schaute ihn grimmig an.
»In der Tat, wie es Plautus in seinen Asinaria sagt: lupus est homo homini!«
Critan verzog das Gesicht.
»Latein oder Griechisch hab ich nicht gelernt.«
»Auch wenn man deine Philosophie der bloßen Rache akzeptiert: Bist du so sicher, daß es Moen ist, der sein Leben verwirkt hat?«
Einen Moment schien es, als habe Critan sie nicht ganz verstanden, doch dann lächelte er.
»Ich weiß, daß Moen der Mörder ist, daran gibt es keinen Zweifel.«
»Keinen Zweifel? Wie willst du das so genau wissen?«
»Weil ich ihn gesehen habe.«
»Willst du damit sagen, du hast gesehen, wie er Eber getötet hat?« forschte Eadulf.
Critan grinste bedeutungsvoll.
»Nicht direkt gesehen«, gestand er und legte den Finger an die Nase, »aber so gut wie.«
»Was soll das denn heißen?« fuhr ihn Fidelma an. »Du kannst nur etwas behaupten, wenn du es tatsächlich gesehen hast.«
Critan, der jetzt ihre volle Aufmerksamkeit genoß, gab erneut an.
»Ich habe gesehen, wie Moen in Ebers Wohnung ging.«
Fidelma spürte, wie sich ihre Augen vor Überraschung leicht weiteten. Weder Menma noch Duban hatten erwähnt, daß Critan sich in der Nähe von Ebers Wohnung aufgehalten hatte, bevor die Leiche entdeckt wurde.
»Das mußt du uns noch etwas näher erklären«, forderte sie ihn auf. »Wann hast du gesehen, daß Moen Ebers Wohnung betrat?«
»Es war an dem Morgen, als Menma Ebers Leiche entdeckte. Ungefähr eine halbe Stunde, bevor ich kam, um Duban auf der Wache abzulösen.«
Fidelma warf Duban einen raschen fragenden Blick zu. Der ältere Krieger war sichtlich verwirrt. Offenbar hörte er die Geschichte zum erstenmal.
»Warum warst du schon so früh auf?« erkundigte sich Fidelma. Der junge Mann schien zu zögern, deshalb fuhr sie fort: »Das mußt du uns schon erklären, wenn du als glaubwürdiger Zeuge gelten willst.«
»Wenn du es unbedingt wissen willst«, Critan lief rot an, und sein Ton wurde entschuldigend, »ich hatte die Nacht in einem gewissen Haus verbracht ...«
»Einem gewissen Haus?«
Duban lachte plötzlich laut los.
»Ich wette, er meint Clidnas Bordell. Es steht ein paar Meilen von hier am Fluß.«
Critans verlegenes Gesicht bestätigte das.
»Ich mußte vor Sonnenaufgang zurück im rath sein und hatte gerade den Eingang der Festhalle erreicht. Ich sah Duban drinnen auf der Bank ausgestreckt liegen. Er schlief fest.« Dubans Gesicht rötete sich, aber er schwieg. »Dann sah ich, wie die Kreatur im Schatten entlangschlich. Moen wußte natürlich nicht, daß ich da war.«
»War Moen allein?«
Critan verzog das Gesicht.
»Ja. Jeder weiß hier, daß er sich frei bewegen kann, wenn er auch blind und taubstumm ist. Er hat anscheinend einen Instinkt dafür, wie er von einem Haus zum anderen gelangt.« »Ich verstehe. Er war also allein?«
»Das war er«, bekräftigte der junge Mann.
»Und du sahst ihn in Ebers Haus hineingehen?«
»Ja.«
»Wie?«
Critan blinzelte. »Wie?« wiederholte er die Frage, als habe er sie nicht verstanden.
»Du sagst, du standest am Eingang der Festhalle. Du mußtest also acht bis zehn Schritte gehen, um Ebers Tür im Hellen zu sehen, geschweige denn in der Dunkelheit.«
»Ach so. Als ich ihn da entlangschleichen sah, fragte ich mich, was er wohl vorhatte. Deshalb wartete ich, bis er an mir vorbei war, und ging ihm nach.«
»Und du sahst, wie er Ebers Wohnung betrat? Wie tat er das?«
»Durch die Tür.« Der Bursche war naiv.
»Ich meine, tat er es heimlich oder klopfte er an oder versuchte er sich auf andere Weise bemerkbar zu machen? Wie?«
»Ach, natürlich heimlich. Es war noch dunkel.«
»Und in der Dunkelheit sahst du, wie Moen eintrat. Du hast gute Augen. Was tatest du dann?«
»Ich wollte zur Herberge der Krieger und mich waschen, bevor ich Duban ablöste«, grinste Critan. »Also ging ich weiter. Ich wollte in nichts verwickelt werden, deshalb sagte ich auch nichts, als Teafa .«
Er brach plötzlich ab. Sein Blick wurde unsicher.
»Als Teafa ...«, hakte Fidelma nach. »Als Teafa was?«
»Ich war auf dem Weg an der Festhalle und den Ställen vorbei zur Herberge der Krieger, die gleich neben der Mühle steht. Teafas Hütte ist in der Nähe. Als ich vorbeikam, trat sie mit einer Lampe in der Hand heraus. Sie suchte Moen. Erst dachte ich, sie suchte Brennholz, denn sie hatte sich gebückt und einen Stock vor ihrer Tür aufgehoben. Dann erblickte sie mich und fragte mich, ob ich Moen gesehen hätte.«
»Hast du ihr gesagt, wo sie ihn finden könnte?«
»Ich doch nicht. Ich wollte mit diesem Moen nichts zu tun haben. Ich sagte ihr, ich hätte ihn nicht gesehen, und ging weiter. Ich wusch mich, zog mich um und ging zu Duban. Er erzählte mir, was geschehen war.« Critan lächelte triumphierend. »Da hast du’s. Es ist klar, daß Moen Eber und Teafa umgebracht hat.«
Eadulf nickte gedankenvoll.
»Es scheint logisch«, gab er zu und blickte Fidelma an.
»Wir wollen sichergehen, daß ich das richtig verstanden habe«, sagte sie. »Du hast gesehen, wie Moen in Ebers Wohnung ging. Sie war dunkel. Es war vor Sonnenaufgang. Wie konntest du sehen, daß Moen wirklich eintrat?«
»Leicht zu erklären. Meine Augen waren an die Dunkelheit gewöhnt. Ich war gerade im Dunkeln von Clidnas Haus zum rath geritten.«
»Dann liefst du weiter und trafst Teafa an der Tür ihrer Hütte mit einer Lampe, wie sie Moen suchte? Als du zu Duban gingst, vielleicht eine halbe Stunde später, erfuhrst du, daß Menma Eber und Moen ge-funden hatte. Warum hast du ihm nicht erzählt, was du gesehen hattest?«
»Das war nicht nötig. Es gab andere Zeugen.«
»Wann hast du erfahren, daß auch Teafa getötet wurde?«
Critan gab sich sicher.
»Nachdem Duban sie suchte, damit sie Moen beruhigen sollte.«
»Danke, Critan, du warst eine große Hilfe.«
Fidelma schritt gemächlich auf das Gästehaus zu, und Eadulf eilte ihr nach.
»Brauchst du mich heute noch mal, Schwester?« rief Duban ihnen nach.
Fidelma drehte sich zerstreut um. »Ich möchte noch das Jagdmesser sehen, mit dem Moen die Tat begangen haben soll.«
Читать дальше