Gowers lachte und aß.
»Wie kommen Sie nun eigentlich zu Ihrem Moko?«, fragte der Häuptling nach dem Essen und reichte seinem Gast dabei eine der erbeuteten Feldflaschen mit Schnaps. Am Geschmack erkannte der Investigator, dass die Flasche einem Offizier gehört haben musste, überlegte kurz, wem, und sagte sich dann, dass der Mann sicher nichts dagegen hätte, wenn das Getränk seinem Verwendungszweck zugeführt wurde.
Über Te Kootis Flucht von Chatham und seine eigene Verbannung aus dem Lager Nga Tapa hatte Gowers bereits berichtet, aber die etwas heiklen Details bislang verschwiegen. Titokowaru lachte leise darüber, wie der Prophet des Ringatu seinen Navigator überlistet hatte, aber danach schallend über Gowers’ Antwort hinsichtlich göttlicher Offenbarungen.
»Das Moko selbst entehrt Sie nicht, mein Freund«, sagte er, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. »Genau genommen ist es der einzige Grund, aus dem Sie mein Lager lebend betreten haben«, fügte er trocken hinzu. »Es hat uns zusammengebracht.« Der Häuptling erhob sich und zog seine europäischen Kleider aus, sogar seine Schuhe.
»Das sind die Zeichen, die ich erhalten und mir selbst gegeben habe, John Gowers«, sagte er, als der Amerikaner sich gerade fragte, was daraus werden sollte. »Mein Whakapapa.« Titokowaru deutete auf die Tätowierungen an seinen Armen, Beinen und Hinterbacken.
»Dies«, fuhr er fort und legte die rechte Hand auf seine linke Schulter, während er sich umdrehte und Gowers seinen Rücken sehen ließ, »sind die Menschen, die ich liebte und die gestorben sind. Ihre Namen werden meinem Geist helfen, sie im Jenseits wiederzufinden.«
Gowers sah nur Linien, Kreise und Punkte auf dem linken Schulterblatt des hageren und dabei so kräftigen Mannes.
»Und dies«, sagte der Häuptling mit deutlich veränderter Stimme, als er die linke Hand auf seine rechte Schulter legte, »sind die Männer, die ich getötet habe und deren Geistern ich wieder begegnen möchte, um sie noch einmal zu töten!«
Der Investigator registrierte, dass die Zeichen auf der linken, der Herzseite, eine deutlich größere Fläche bedeckten als die wenigen dünnen Striche auf der rechten.
»Sie haben mehr geliebt als gehasst«, stellte er fest. Titokowaru nickte erstaunt, dann setzte er sich wieder nieder und schürte bedächtig das Feuer.
»Vielleicht ist dies das Beste, was man über mich sagen kann, John Gowers.«
Sein Status bei den Rebellen blieb ungeklärt in den beiden Monaten, die sie nach der Schlacht von Te Ngutu o te Manu durch die weglosen Wälder, die befreiten Ebenen zogen. Er war kein Gefangener, kein Gast, aber auch kein Verbündeter, obwohl er an der Befestigung von Moturoa mitarbeitete, Bäume fällte, Gräben aushob. Niemand redete viel mit ihm, weil keiner ihn einordnen konnte. Wiremu Katene jedenfalls schien ihn zu hassen, vielleicht, weil er selbst ein Überläufer war, dem man noch immer mit Misstrauen begegnete. Aber weil er ein Überläufer war, konnte er es nicht sagen.
John Gowers beneidete insgeheim jeden dieser Menschen darum, dass sie wussten, wofür sie kämpften. Er selbst kämpfte nicht am Okotuku Hill, überbrachte aber Befehle, Berichte, Munition, Wasser und half, ihre Verwundeten zu bergen. Er konnte nicht auf Männer schießen, mit denen er gegessen, gelacht hatte, durch die Lavaebenen des Tongariro marschiert war. An den schauerlichen Ritualen des Sieges nahm er nicht teil, wanderte allein durch die Wälder, so oft, so weit und so lange, dass einige Männer befürchteten, er könne den Pakeha ihren Standort und ihre Pläne verraten, und den Häuptling baten, ihn doch noch töten zu dürfen. Titokowaru lehnte das ab.
Einige Tage nach Moturoa kam John Gowers dann zur Hütte des Häuptlings und bat ihn um Papier und Schreibzeug. Titokowaru riss eine leere Seite aus Manu-Raus Tagebuch, in dem er zu seiner Erbauung hin und wieder las. Der Investigator schrieb etwas nieder, wenige kurze Worte, aber in deutlichen Buchstaben. Dann suchte er den Tatauiermeister der Ngaruahine auf. Zu seiner Überraschung war es noch ein ganz junger Bursche, eigentlich noch ein Lehrling, der jetzt seinen bei Moturoa gefallenen Meister ersetzen musste.
»Du willst es?«, fragte er, wie er es nach den uralten Gesetzen seines Handwerks tun musste. Gowers nickte, zog sein Hemd aus und legte sich auf den Bauch. Der junge Mann sah sich noch einmal die Zeichen an, die er dem anderen ins Fleisch schlagen würde.
Jane Gowers, Deborah Williams, stand auf der linken Seite des Papiers. Desmond Bonneterre, Gabriel Beale, Henry Wirz, auf der anderen. John Gowers hatte länger gehasst als geliebt.
158.
Lemuel Willard war ein sehr mäßig begabter Heilkünstler, aber zu seiner Ehre muss gesagt werden, dass er sich dieser Tatsache stets bewusst war. Bar jeder medizinischen Eitelkeit hielt er es deshalb für das Vernünftigste, ernsthaft erkrankten Patienten nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen und sich auf die kleineren, leichter erkennbaren Wehwehchen zu spezialisieren, die die Natur bereithielt. Beides gelang ihm auch einigermaßen, und zumindest war in und durch seine bisherige medizinische Praxis noch niemand ums Leben gekommen – was nicht jeder Arzt des 19. Jahrhunderts von sich sagen konnte.
In seiner Seele war er ein Dichter, ein Schöngeist, dem bereits in der Jugend die griechisch-römische Klassik über alles ging und dessen Geschick im Umgang mit Worten früh auffiel. Für den zweiten Sohn eines harten, sehr harten iroschottischen Pflanzers lag ein entsprechendes Studium natürlich außerhalb aller denkbaren Lebensentwürfe, und erst die vehemente Fürsprache eines evangelikalen Pfarrers ermöglichte es Lemuel, die zumindest halb intellektuelle Laufbahn eines Veterinärmediziners einzuschlagen. Und nur weil zum Viehbestand einer Baumwollplantage selbstverständlich Sklaven gehörten, hatten weder Vater noch Bruder etwas gegen eine zusätzliche humanmedizinische Spezialisierung des »Familientrottels« einzuwenden.
»Er wird selbst sein bester Kunde sein«, lautete ihr höhnischer Kommentar, denn der sensible, versponnene Junge hatte nie großes Talent für Farm-und Handwerksarbeiten erkennen lassen, sondern nur die Gabe, sich bei der kleinsten entsprechenden Tätigkeit zu verletzen. Auch im Zuge seiner akademischen Ausbildung musste er durch einen Wald geschüttelter Köpfe gehen, und noch die wohlwollendsten Professoren gestanden sich irgendwann resigniert ein, dass sie selten einen Kandidaten der Medizin mit noch geringerem Verständnis für die menschliche Anatomie gesehen hatten.
Sogar im amerikanisch-mexikanischen Krieg, zu dem Willard – nach dem frühen Tod seines Bruders ein höchst wider-und eigenwilliger Plantagenbesitzer geworden – sich freiwillig gemeldet hatte, wurde er von seinen Vorgesetzten im Lazarettdienst sehr bald nur noch mit der Applikation von Einläufen befasst; eine Heilbehandlung, bei der auch ein unbedarfter Anatom kaum fehlgehen konnte, die ihn aber bei den verwundeten Soldaten nicht sonderlich beliebt machte. Dass er trotz seiner Verschrobenheit ein sehr wohlhabender Mann geworden war, verdankte Willard allein der Tatsache, dass der Boden, den er geerbt hatte, so ungewöhnlich fruchtbar war, dass man nur darauf spucken musste, um Baumwolle zum Wachsen zu bringen.
Längst hatte er das Geschäft seinem ältesten Sohn übertragen, pflegte aus purer Liebhaberei seine rhetorischen Künste und trat fast nur noch bei den bedauernswerten Sklaven seiner Familie in eine bescheidene ärztliche Erscheinung. Noch immer war er dabei der Ansicht, dass es kein Leiden des Körpers oder der Seele gäbe, das sich nicht durch einen kräftigen Einlauf lindern ließe. Erst in jüngster Zeit, auf seine alten Tage, hatte er außerdem die üble Gewohnheit angenommen, bei entsprechend guten Gelegenheiten auch die Geschlechtsreife seiner jugendlichen Patienten und Patientinnen persönlich auf die Probe zu stellen.
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