Das war seine letzte Amtshandlung als Oberkommandierender. Die Regierung dankte McDonnell für seine Dienste und verabschiedete ihn mit militärischen Ehren aus der Geschichte. Bei den kurz darauf stattfindenden Wahlen verabschiedete das Volk allerdings auch die Regierung.
Der neue Mann an der Spitze der neuseeländischen Streitkräfte hieß George Stoddard Whitmore und wurde von seinen eigenen Offizieren mit Adjektiven beschrieben, die im Zivilleben eine Flut von Beleidigungsklagen ausgelöst hätten: heuchlerisch, arrogant, taktlos, verachtenswert, viehisch, aufgeblasen, schwachsinnig, eingebildet und »ein widerliches kleines Schwein, hart wie ein Schusternagel, der jeden seiner Männer in Grund und Boden marschieren könnte«.
Die Eigenschaft, die ihn so viele »menschliche Qualitäten« überhaupt ertragen ließ, kann allerdings ohne Übertreibung als die Kardinaltugend eines Soldaten bezeichnet werden; eine Tugend, die jedweden militärischen Erfolg letzten Endes erst ermöglicht: Whitmore war stur. Ein einmal ins Auge gefasstes Ziel aufgrund welcher Umstände oder Argumente auch immer irgendwann wieder aufzugeben lag ganz einfach außerhalb seiner Vorstellungskraft.
Als er Moturoa im Morgengrauen vor sich liegen sah, baute Whitmore seinen Angriffsplan auf zwei Annahmen auf; dass die Annäherung seiner Armee unbemerkt geblieben war und dass die Befestigung des Pas auf der rechten Flanke eine offensichtliche Lücke aufwies. Vergeblich sagten ihm seine Kupapa, dass es ein schlafendes Kriegslager der Maori nicht gibt, dass Moturoa viel zu still war, um überrumpelt zu werden. Ohne Gehör zu finden, wiesen ihn auch die Veteranen der Patea Field Force darauf hin, dass die Palisade schon bei Te Ngutu nicht die eigentliche Verteidigungslinie der Rebellen gewesen war, sondern der dichte, nebelverhangene Wald.
Aber schon am Tag zuvor hatte Whitmore doppelte Rationen an seine Männer ausgeben lassen, und jeder Soldat jeder Armee jedes Jahrhunderts weiß, was das bedeutet: Der Angriff stand unmittelbar bevor und würde schon aus logistischen Gründen nicht mehr verschoben werden. William Hunter, der Mann, der Turuturu Mokai verschlafen hatte, befehligte die Attacke. Und selbst als sie in einer Wand aus Blei stecken blieb, als seine Männer, soweit sie nicht gefallen waren, auf dem nackten Boden kriechend nach Deckung suchten und ihn baten, sich doch hinzulegen, um Gottes willen, blieb Hunter aufrecht, ging im unablässigen Feuer auf und ab.
»Heute muss ich der Welt zeigen, dass ich kein Feigling bin!«
Eine Kugel erwischte ihn unterhalb der Hüfte, zerriss die Arteria Femoralis, und er verblutete binnen weniger Minuten, ein viktorianischer Held, mit dem irritierenden Gefühl einer Unmenge warmer Flüssigkeit zwischen den Beinen. Noch zwei ganze Abteilungen jagte Whitmore gegen die einmal ausgewählte »Schwachstelle«, ehe er den Rückzug befahl.
Wieder ein mit Leichen übersätes Schlachtfeld. Wieder versuchten die Weißen, ihre gefallenen Kameraden mitzunehmen, wieder verloren sie dabei nur noch mehr Männer. Wieder kopflose Flucht, Verfolgung, Jagd durch den weglosen Busch. Wieder wurden Gefangene und Verwundete mit Äxten niedergemacht, geplündert. Am Rande des Waldes baute die Nachhut eine Verteidigungslinie auf, um der fliehenden Armee den geordneten Rückzug über eine Meile freies Feld in den kleinen Stützpunkt Wairoa zu ermöglichen.
Aber der Wald schien plötzlich lebendig zu werden, knackte, summte, jeder Baum wurde zu einem Feind. Da nahm auch die Nachhut die Beine in die Hand, und achthundert Männer rannten in wildem Zickzack über die offene Fläche, verfolgt von den Salven der hundert Maori, als würden Mäuse eine Katze verjagen. Einem an der Schulter verwundeten Soldaten dauerte der geordnete Rückzug zu lange. Er sprang von der Tragbahre und rannte seinen Trägern voraus. Ein paar Granaten, von der schweren Artillerie Wairoas in den Urwald gefeuert, beendeten das Triumphgeheul der Aufständischen, aber hier und da hörte man noch die Todesschreie der Versprengten, die ihnen in die Hände fielen.
Neu war an diesem blutigen Tag nur ein Gerücht, das unter den Pakeha die Runde machte. Einige sagten, andere bestätigten, Dritte schmückten aus, dass sie in den Reihen der Maori, durch Pulverdampf, Nebel, Unterholz, kriechende Schlingpflanzen hindurch einen tätowierten Weißen gesehen hätten, der auf Titokowarus Seite kämpfte.
157.
»Er will nicht zu etwas oder jemandem gehören.«
Es waren diese Worte, die Te Kooti, der Prophet, über ihn gesprochen hatte, die John Gowers beschäftigten. Was immer man von dem seltsamen Heiligen und seinen Methoden halten mochte, er war ein kluger, vielleicht sogar hellsichtiger Mann, der wusste, was er wollte, und Gowers fragte sich am Ende seiner langen Jagd, ob er das Gleiche auch von sich selbst behaupten konnte.
Seit Deborah tot war und er den letzten ihrer Mörder zur Strecke gebracht hatte, war er nur noch ein Beobachter im endlosen Krieg aller gegen alle gewesen, hatte sein Geschäft, die Aufklärung von Sachverhalten, hatten seine Aufträge als Ermittler ihm kurzfristige, rasch wechselnde Ziele gewiesen. Er war aus Notwendigkeit Detektiv geworden und es eigentlich nur geblieben, weil er es verhältnismäßig gut konnte, weil es seine unterschiedlichen Fähigkeiten forderte und gelegentlich sogar befriedigte. Jetzt, in einem Teil der Welt, in den zu kommen er nie beabsichtigt hatte, Freund und Feind tot, fragte er sich nach langer Zeit zum ersten Mal wieder, wohin er eigentlich wollte.
Te Kootis Angebot, mit den Maori zu leben, hatte er abgelehnt, weil er noch etwas zu tun hatte und »wegen des religiösen Scheißdrecks«, wie er es vor sich selbst formulierte. Auch der Häuptling der Ngaruahine zog sich von Zeit zu Zeit in die Taha wairua, das Land der Geister, zurück, aber er war kein Prophet und forderte von keinem seiner Anhänger, an ihn zu glauben. Titokowaru war ein Kämpfer – und darin dem Seemann, Lotsen, Soldaten und Investigator sehr ähnlich. Nur der eine wesentliche Unterschied zwischen ihnen wurde ihm klar, als der Häuptling ihn unmittelbar nach der sonderbaren Hinrichtung Fagans gut gelaunt fragte: »Woher kommen Sie, John Gowers? Wo ist Ihre Heimat, Ihre Familie?«
Was sollte er antworten? Er schüttelte nur den Kopf.
Titokowaru schien zu verstehen und wurde ernsthafter.
»Wo sind Ihre Toten begraben?«
Wieder Kopfschütteln. Wo sollte er anfangen? Sein Vater, im Berg? Jane, in den Seziersälen irgendeines Londoner Lehrkrankenhauses? Deborah, auf einer kleinen Insel, die der Mississippi vielleicht längst weggewaschen hatte?
»Kommen Sie heute Abend in meine Hütte«, sagte der Häuptling, als er keine Antwort erhielt. »Ich möchte mit Ihnen reden.« Und er gab seinen Leuten Befehl, den sonderbaren stillen Pakeha nicht länger zu bewachen wie einen Gefangenen. Am Abend aßen sie Fleisch.
»Schwein«, sagte Titokowaru und lächelte. »Sie müssen keine Angst haben.«
»Ich habe keine Angst«, erwiderte Gowers, von der Qual der Fragen tiefer erschöpft als von seinen langen Reisen. »Ich weiß nur nicht, warum ich noch essen soll.«
»Vielleicht, weil es schmeckt«, sagte der einäugige Häuptling, das wüste Gesicht zu einem Grinsen verzogen. Er griff in den Staub, in den festgestampften Boden der Hütte und hielt Gowers die Hand hin. »Ich bin aus dieser Erde gewachsen, John Gowers, und sie hält mich fest, solange ich lebe, und wird mich festhalten, wenn ich nicht mehr lebe; wie sie es schon mit meinem Vater und seinem Vater und dessen Vater und all meinen Ahnen getan hat seit tausend Jahren, seit die Tangata Whenua, die aus dem Meer kamen, dieses Land in Besitz nahmen.«
Titokowaru musterte den abgezehrten Fremdling lange und eindringlich. »Ich glaube, dass Sie zu den Tangata Whenua gehören«, meinte er dann. »Wir sind also verwandt, und Sie können ruhig zugreifen.«
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