Es waren ausschließlich Kinder, die feuerten, Jungen und Mädchen von neun, zehn, elf Jahren, zum Teil kleiner als die Gewehre, die die Frauen für sie luden. Die Krieger standen lediglich dabei und spornten die Kinder an, gaben Ratschläge, mahnten. Ihr Ziel konnte Gowers noch nicht ausmachen; er sah lediglich, dass zwischen den ersten vereinzelten Bäumen am Waldrand ein Seil gespannt war.
Als Titokowaru, noch immer in seinem europäischen Anzug, den Investigator herankommen sah, befahl er, das Feuer einzustellen, und winkte ihn zu sich. Gemeinsam gingen sie dichter an die Bäume und das Seil heran, und Gowers entdeckte schließlich den weißen Gefangenen, der dicht an den Boden gekauert hinter den Baumwurzeln Deckung suchte. Um seine Hüfte war ein zweites Seil geschlungen, das mit der langen »Laufleine« so verbunden war, dass er sich zwischen den Stämmen hin-und herbewegen konnte, zehn Schritte nach links, zehn Schritte nach rechts. Mit zitternden Händen arbeitete der Gefangene an den Knoten, die man jedoch mit Wasser übergossen hatte und die inzwischen so eingetrocknet waren, dass er sich bei den verzweifelten Versuchen, sie zu lösen, bereits einige Fingernägel abgerissen hatte.
Der Mann heulte und schluchzte, rief mit überschnappender Stimme: »Ihr seid keine Menschen! Ihr seid keine Menschen!«, in diese erste wirkliche Schießpause, und als er aufsah, erkannte Gowers die lange rote Narbe in seinem Gesicht.
»Ist das der Mann?«, fragte Titokowaru leise.
Gowers hatte James Fagan nur ein einziges Mal gesehen und ging noch ein Stückchen näher heran. »Bradley?«, rief er. »James Bradley?«
»Ja, Sir, jawohl, Sir«, schrie der Gefangene verzweifelt, und als er inmitten dieses Alptraums einen trotz seiner Tätowierungen offenbar weißen Mann vor sich sah, flackerte in seiner Stimme und seinen Augen die irrwitzige Hoffnung, doch noch einmal davonzukommen. »Retten Sie mich, Sir. Retten Sie mich! Um der Gnade Christi willen: Helfen Sie mir! Die wollen mich abknallen wie einen Hund!«
Einige Schüsse hatten ihn bereits gestreift; er blutete aus mehreren kleinen Wunden, war aber noch nicht ernsthaft verletzt. Einen Moment lang dachte Gowers daran, den Mörder, den er so lange gejagt hatte, selbst zu erschießen, aber dann erkannte er beinahe widerwillig die Gerechtigkeit, die in der von Titokowaru angeordneten Strafe lag. Er drehte sich um und ging langsam zu dem Häuptling der Ngaruahine zurück.
»Ja«, sagte er.
»Sir, bitte«, gellten die Schreie James Fagans in seinem Rücken. »Bitte gehen Sie nicht weg! Helfen Sie mir! So helfen Sie mir doch!«
Titokowaru zog das Messer aus dem Gürtel, das er Gowers in der Nacht abgenommen hatte, und schleuderte es bis zu der Baumwurzel, hinter der Fagan lag. Es war ein schlechter Wurf; die Klinge blieb nicht im Holz stecken, sondern prallte ab und blieb ein paar Schritte neben dem zum Tode Verurteilten liegen.
Als James Fagan merkte, dass das Feuer nicht wieder aufgenommen wurde, stürzte er aus seiner Deckung, packte das Messer und begann, seine Fesseln zu zerschneiden. Erst mitten in dieser Arbeit erkannte er, was er da in der Hand hielt. Er stutzte einen Augenblick, starrte mit weit aufgerissenen Augen auf seine Peiniger, verstand nicht und würde nie erfahren, wie sein Messer an diesen Höllenort gekommen war.
»O mein Gott, mein Gott!«, rief er und fuhr dann in panischem Schrecken fort, sich zu befreien. Und auf diese Weise waren es ganz zuletzt drei Männer, die wussten, warum geschah, was geschah: der von Entsetzen geschüttelte Mörder, sein gnadenloser, unerbittlicher Verfolger und der furchtbare einäugige Richter. Dann hatte Fagan die Stricke durchschnitten und rannte mit taumelnden Schritten in den Wald.
»Jetzt!«, befahl Titokowaru, und jauchzend vor Mordlust und Jagdeifer schwärmten seine kleinen Henker aus, über die Lichtung, rannten wie ein Rudel hungriger Wölfe ihrer Beute hinterher und verschwanden zwischen den Bäumen. Wenig später hörte man einzelne Schüsse, Schreie, dann ein wildes Triumphgeheul aus einem Dutzend Kinderkehlen. Dann nichts mehr.
155.
Etwas zu wissen, ohne es beweisen zu können, kam im Leben eines privaten Ermittlers recht häufig vor. Genau genommen bestand seine Arbeit ja gerade darin, Beweise für bestimmte Vermutungen zu erbringen beziehungsweise so vielen Vermutungen nachzugehen, bis eine davon sich als evident erwies. Ein wichtiger Zweig seiner Tätigkeit war es auch, verloren gegangene Dinge wiederzubeschaffen oder wenigstens herauszufinden, wo sie geblieben waren und was mit ihnen geschehen war.
Dazu brauchte man in erster Linie Spuren, und die waren in dem Auftrag, einen Menschen namens Moses zu finden, von Anfang an dünn gesät gewesen. Aber nie war Gabriel Beale in dieser Hinsicht so ratlos wie in den Tagen, die der Flucht der Deep South folgten. War das Schiff explodiert und gesunken? Hatte sein verzweifelter mörderischer Plan funktioniert? Oder hatte John Gowers, der das ja schon einmal getan hatte, das Schiff und seine Mannschaft unsichtbar gemacht? Wie sollte er das herausfinden? Wo sollte er auch nur anfangen?
Auf dem großen Fluss hinterließ nichts und niemand eine Spur; allenfalls an seinen Ufern hätte man nach Indizien, Wrackteilen, Leichen zumindest suchen können. Aber wenn nicht gerade ein verkohltes Brett mit der Aufschrift Deep South oder eine Lotsenjacke mit dem Namenszug »John Gowers« angespült wurde oder ein Angler anstelle von Flussbarschen eine blaue Brille aus dem Wasser zog, wären auch Wrackteile und dergleichen keine Beweise, die dem hohen Wahrheitsanspruch des Detektivs genügten.
Gabriel Beale musste kapitulieren, und sein scharfer Verstand fand sich auch erstaunlich schnell mit der Tatsache ab, dass er dieses Rätsel nie lösen würde. Nur in seinen Träumen stand er Moses noch oft gegenüber und bettelte um sein Leben.
Desmond Bonneterre nahm es schwerer. Zweifellos war die Sache für ihn schon vorher zur fixen Idee geworden, die er jetzt umso weniger abschütteln konnte, als er nie Klarheit über sie haben würde. Dass sein ganzes Vermögen, sein Verstand, seine Macht und – seine Schnelligkeit nicht ausgereicht hatten, Moses zu fangen, kränkte auch seine Eitelkeit schwer.
Allen Ernstes erwog er, nach Wrackteilen zu suchen, als der Detektiv sagte, dass die Deep South mit hoher Wahrscheinlichkeit in die Luft geflogen sei, und nur die lächerliche Figur, die er dabei machen würde, hielt ihn davon ab.
»Entschuldigung, sind hier in letzter Zeit Leichen angespült worden?!«
Er kaute seine Rachegedanken durch, bis sie jeden Geschmack verloren hatten, und konnte sie doch nicht hinunterschlucken. Anfangs betrank er sich jeden Abend, um überhaupt in einen wirren Schlaf zu finden, und zeitweise litt seine Potenz unter der jämmerlichen Ohnmacht, die schließlich das Einzige war, was er in dieser Sache empfinden konnte.
Aber irgendwann siegte seine Jugend, die Eitelkeit, das Wissen, dass er noch immer der »Herr« war, Hunderte von Sklaven und beinahe ein Land besaß, um das ihn mancher der kleinen europäischen Könige beneiden würde. Nur in der Nacht riegelte er seine Tür noch sorgfältiger ab als früher, wenn er auch die Gewohnheit beibehielt, Darioleta in seinem Schlafzimmer anzuketten. Manchmal verbarrikadierte er sich sogar in der jämmerlichen kleinen Angst, die tief in jeder Bosheit steckt. War es vorbei?
Seine Füße bluteten schon, als er am Ufer des Kaskaskia stand. Der Fluss war nicht übermäßig breit, aber tief, und obwohl er ein guter Schwimmer war, geriet das kleine Bündel in seiner linken Hand zweimal ins kalte Wasser. Er versuchte, das Kind warm zu reiben, aber es machte auch bei dieser rauen Behandlung die Augen nicht mehr auf. John trug es den Rest des Weges an seiner nackten Brust und konnte später nicht sagen, wann es aufgehört hatte zu atmen. Es hatte nie geschrien, und nicht ein einziges Mal hatte er die Stimme seiner Tochter gehört.
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