Deborah kam mit dem Loten kaum nach, weil sie allein war und das Schiff Volldampf fuhr, in einer schmalen Rinne am Ostufer, um mögliche Verfolger so weit wie möglich hinter sich zu lassen. Hätte sie gewusst, dass seine Fragen und ihre Antworten: »Twaineinhalb! Twaineinviertel! Twaineinhalb!«, die letzten Worte waren, die sie im Leben wechselten, wäre sie vielleicht sogar glücklich gewesen, denn was bedeuteten sie anderes, als dass sie auf ihrem Weg waren?
Mr. Phineas hörte zuletzt etwas, das nach Schüssen in seiner unmittelbaren Umgebung klang, und stutzte, aber da barst auch schon der Kessel, eine armdicke Stichflamme schoss aus der klaffenden Öffnung hervor, erreichte die Kohlen und das Pulver darunter, und die Explosion zerriss den riesigen Mann, wie ein Faustschlag mürbes altes Papier zerfetzt. Deborah, die achtern gewesen war, wurde zu Boden geschleudert. Gowers hielt sich am Steuerrad aufrecht, als das ganze Schiff plötzlich einen Sprung nach oben machte, fühlte aber am fehlenden Widerstand in seinen Händen sofort, dass das Rückgrat der Deep South gebrochen war.
Mittschiffs brannte alles; glühende Kohlen wurden zischend hoch in die Luft geschleudert und fielen rings um das sterbende Schiff in den Fluss, vergingen in kleinen weißen Wolken, die wie Schrapnellfeuer überall auf dem Wasser standen. Sie taumelten, riefen, suchten einander in dem Inferno, das zwischen ihnen stand. Fauchend entwich der achthundert Grad heiße Dampf aus dem geborstenen Kessel. Gowers wusste, dass man die Augen schließen musste und auf keinen Fall einatmen durfte, wenn man hindurchlief. Deborah wusste es nicht.
Tief, tief drang das Feuer in Form mikroskopisch kleiner Tropfen in ihre Lunge ein, legte sich auf ihr Gesicht, ihre vor Schmerz weit aufgerissenen Augen. Mechanisch, vegetativ schnappte sie mehrmals nach Luft, fraß sich der tödliche Dampf weiter in ihren Körper, bis auch die feinsten Verästelungen ihrer Lunge kochten. Gowers sah sie in dieser Hölle stehen, rannte durchs Feuer und warf sich auf sie, riss sie mit sich in den Fluss und schwamm nur Sekunden später um ihrer beider Leben, weg von dem mit einem hässlichen Gurgeln schnell versinkenden Schiff.
Mehrmals kam es ihm so vor, als würde sie gewaltsam versuchen, sich von ihm loszureißen, nach unten zu drängen, tiefer ins kalte, nicht allzu reißende Wasser. Deborah wusste nichts mehr von sich, von John, vom Illinois-Ufer und von der Freiheit, in die er sie bringen wollte. Sie war nur noch Schmerz, denn natürlich schöpfte ihr Körper Atem, Sauerstoff, der in ihrer halb zerstörten Lunge immer weiter zu brennen schien. Sie konnte nicht schreien, denn auch das Schreien war Schmerz. Nur ein leises, hohes, alles durchdringendes Keuchen kam über ihre Lippen, und als sie im Sand auf der kleinen Insel lag, festen Boden unter sich fühlte, warf sich ihr Körper in wilden Zuckungen dagegen, bäumte sich auf, schlug blind um sich in dem einen rasenden Wunsch: dass es aufhören möge.
John legte sich halb über ihren Körper in der verzweifelten Hoffnung, sie zu beruhigen, mit ihr reden zu können, weinte, schrie, hielt ihre Arme umklammert. Dabei glaubte er irgendwann, tatsächlich noch einmal ein Wort zu verstehen, ein einziges, lang gezogenes: »Nein!«
Da verstand er. Verstand, dass jede Sekunde, die sie noch länger lebte, unendliche, gnadenlose Folter war, und wusste mit entsetzlicher, seelentötender Klarheit, was er tun musste, wenn er sie liebte. Er schloss die Augen und legte die Hände um ihren Hals. Der schlanke und doch so starke Körper wehrte sich lange gegen den Tod, den ihr Geist so verzweifelt suchte: als einzigen Ausweg aus dem funkelnden Labyrinth der Schmerzen.
John wusste nicht, wie lange er zugedrückt hatte, sah nur, dass ihr verbranntes Gesicht jetzt entspannt war; nicht friedlich, aber doch still. Deborahs Tag war vorüber.
Plötzlich schlotternd vor Kälte setzte er sich im nassen Sand auf und legte lange den Kopf in die Hände. Weinend streichelte er sie, ihre Hände, ihren Leib – und fühlte an der leichten, aber deutlichen Bewegung unter ihrer Bauchdecke, dass es noch nicht vorbei war.
153.
Der Friede war wieder eingekehrt in seiner dunklen, engen Welt, aber dennoch spürte das kleine Wesen, dass eine Veränderung vorgegangen war. Es hatte sonst ständig Geräusche gehört, Bewegung gespürt und tief innen eine Sicherheit gefühlt wie einen warmen, endlosen Strom. Zuletzt, in den Schmerzen, der Agonie seiner Mutter aber war es von flatternder Panik geradezu überschwemmt worden. Das winzige Herz raste vor Angst, die kleinen Fäuste ballten sich wieder und wieder zusammen, seine Füße zuckten und traten gegen die tödliche Bedrückung, die es von allen Seiten umgab.
Nun war alles wieder still und hätte schön sein können, wenn es nicht so ganz anders gewesen wäre. Das Blut seiner Mutter kreiste nicht mehr, enthielt aber noch genug Sauerstoff, um das Wesen für Stunden am Leben zu erhalten. Es steckte einen der winzigen Finger in seinen Mund, weil es bereits gelernt hatte, dass diese zärtliche Berührung ihm guttat, es ruhig machte und meist sogar einschlafen ließ.
John fror jetzt nicht mehr, denn er war selbst das Eis geworden, eine kalte, harte Maschine, die ohne jedes Gefühl, durch den bloßen Willen zum Leben in Gang gehalten wurde. Langsam suchte er seine Kleidung ab, aber er hatte die Stiefel im Wasser verloren und mit den Stiefeln das Messer, das er jetzt brauchte.
Zuerst trat er ans Ufer und suchte im grauen Morgen nach angeschwemmten Wrackteilen, einem geborstenen Brett, einem rostigen Nagel, aber er sah nichts als das trübe, weiche Wasser, das sich leblos nach Süden wälzte. Danach suchte er den Strand nach einem kantigen Stein ab, aber der Mississippi und der Sand unter seinen nackten Füßen hatte die wenigen Steine, die er fand, rund und glatt geschliffen. In der Hoffnung, sie zu einem halbwegs brauchbaren Schneidewerkzeug zu sprengen, schlug er mehrere gegeneinander, doch jedes Mal sprangen nur winzige Splitter ab, schlug er den Steinen nur weiße Narben.
Er dachte jetzt an einen Ast, den er so vom Baum abreißen könnte, dass eine Spitze entstand, eine Art Speer; aber auf dieser Insel, an diesem Ufer, so weit er auch auf und ab ging, schoben nur Weiden ihre weichen, biegsamen Äste über das Wasser. John blickte zum Himmel auf, und der Ausdruck auf seinem Gesicht musste jeden Gott davor warnen, ihm zu begegnen. Sollte er die Leiche seiner Frau mit Fingernägeln und Zähnen zerreißen?!
Das kleine Wesen erwachte, weil das Blut seiner Mutter allmählich kalt, ihre Muskeln hart wurden. Es war nicht die natürliche Anspannung, Kontraktion, die das Wesen so gut kannte. Dies war eine Erstarrung, eine Umklammerung, die bald tödlich sein würde. Was so lange Frieden und Sicherheit, Leben gewesen war, wurde nun Kerker, mit jeder Minute mehr, kälter, erschreckender.
Wieder stellte sich Panik ein, Todesangst, schließlich Hass auf die enge Höhle, in der es lag. Das Fruchtwasser war nun schon weit unter dreißig Grad abgekühlt, und das Wesen würde langsam erfrieren, noch ehe es ersticken konnte. Es wehrte sich jetzt mit aller Macht gegen den Tod, trat, warf den kleinen Kopf hin und her, versuchte, sich umzudrehen. Dabei legte sich aber nur die Nabelschnur um seinen Hals und verhinderte jede weitere Gegenwehr. Nur seine Hände konnte es noch heben, streckte die schwachen Finger aus und bohrte sie von innen gegen die Bauchdecke, unter der es lag wie in einem Grab. Langsam kroch die Kälte in seine kleinen, noch biegsamen Knochen.
Dann hörte es ein Geräusch, etwas wie ein Kratzen, das langsam anschwoll, bis die ganze Bauchhöhle davon erfüllt war. Es fühlte jetzt auch die Erschütterungen, und als es, nur noch schwach, die Augen auf-und zuschlug, wurde es hell und dunkel, hell und dunkel – aber die Helligkeit überwog.
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