»Er ist tot«, flüsterte Lea tonlos.
Da nahm ich sie wieder in den Arm und erzählte ihr von meinen Tagen im Kerker und davon, wie ich die Freiheit erlangte und dabei zufällig ihren toten Vater entdeckte. In welchem Zustand ich ihn angetroffen hatte, das allein verschwieg ich ihr.
Sie weinte vor Kummer eine lange Zeit und ich wusste nicht, wie ich sie trösten sollte.
»Wie viele Tage habt Ihr Euch versteckt?«, fragte ich schließlich, da ich sie auf andere Gedanken bringen wollte. Zudem war diese Frage lebenswichtig. »Welcher Tag ist heute?«
Lea sah mich verwundert an. »Wenn ich richtig gezählt habe«, antwortete sie zögernd, »dann ist heute der Tag, den ihr Christen Sankt Bartholomaeus geweiht habt. Doch welche Bedeutung hat das noch, da uns auch Heilige nicht mehr beistehen können?«
»Sankt Bartholomaeus?«, rief ich da entsetzt. »Aber dann sind seit Mariae Himmelfahrt schon neun Tage vergangen! Neun Tage habe ich verloren im Kerker! Oh HERR, lass mich nicht zu spät kommen!« Lea blickte mich an. »Wohin wollt Ihr denn noch fliehen, Bruder Ranulf? Der Schwarze Tod ist überall.«
»Ich will nicht fliehen«, erwiderte ich darauf, »ich will mich stellen. Und nicht die Seuche fürchte ich, sondern die Menschen.« Da ich nun keinen Grund mehr sah, ihr irgendetwas zu verheimlichen, berichtete ich ihr von der Verschwörung der Inquisition und wie sie so viele Menschen in Tod und Verderben gestürzt und so viele Bücher der Vernichtung anheimgegeben hatte.
»Darum also musste mein Vater sterben«, sagte Lea und ihre Augen blitzten vor Zorn.
»Und es wird noch viel Unglück über die Menschen kommen, wenn wir die Verschwörer nicht aufhalten«, antwortete ich. »Aber wo sollen wir sie suchen?«
»Da, wo sie den Schatz der Templer versteckt halten«, rief ich. »Gold und Silber sind schwer. Wenn der Schatz wahrhaftig so gewaltig ist, wie man sich allerorten zuflüstert, dann bedarf es vieler Träger, um die Truhen zu bewegen, in denen er verborgen sein muss. Doch nun, da die Seuche unzählige Menschen dahingerafft hat und viele andere so von Sinnen sind, dass sie sogar Kirchen entweihen, werden die Inquisitoren kaum noch zuverlässige Träger finden können. Hast du noch einen Sergeanten gesehen? Oder einen Priester? Oder einen Mönch? Nein, die sind alle tot oder geflohen. Wenn wir also überhaupt noch eine Möglichkeit haben, Meister Philippe und seine Mitstreiter zu stellen, dann dort, wo sie den Schatz verborgen haben.«
»Und Ihr kennt das Versteck?«
»Der Inquisitor selbst hat es mir verraten!«, rief ich triumphierend. »Wiewohl er sich dessen nicht bewusst war. Denn er sagte zu mir über den Schatz: ›Dort ruht er noch heute an einem verborgenen Ort. Allen sichtbar und dem Himmel so nah wie nirgendwo sonst und doch unsichtbar für die Augen der Uneingeweihten.‹ Allen sichtbar und dem Himmel so nah wie nirgendwo sonst — welcher andere Ort könnte das sein, wenn nicht die Kathedrale Notre-Dame?«
*
So eilten wir denn zum größten Hause GOTTES von Paris. Doch auch SEIN Haus war nun zur Gruft geworden. Das mächtige Portal an der Westfassade stand offen, sodass Lea und ich ohne Schwierigkeiten hineingelangen konnten. Doch dann stockte uns der Atem. Vor den Altären waren die Kerzen heruntergebrannt. Einzig das Sonnenlicht, verschleiert von den heraufziehenden Gewitterwolken, brachte die gewaltigen Fenster zum Leuchten und füllte das Kirchenschiff mit Licht. Doch während manche Stellen deshalb in blauem und rotem Glanz erstrahlten, lagen andere schon in fast undurchdringlicher Düsternis. Schatten huschten durch den Raum und verschwanden wieder im Gewölbe.
Einen Moment lang glaubte ich, es seien die Seelen der Toten. Ich bekreuzigte mich. Doch dann erkannte ich, dass es Fledermäuse waren, die sich an den Bögen und Kapitellen festgeklammert hatten. Lea und ich hatten sie aufgescheucht, als wir eingetreten waren. Wir waren allein — dachten wir zuerst. Doch kaum waren wir einige Schritte tiefer eingedrungen, da sahen wir, dass uns auch hier viele Tote Gesellschaft leisteten. Wir gewahrten die Körper von Dahingesunkenen zwischen Kirchenbänken und vor Altären. Vor der Pforte zur Sakristei lag ein Domherr, drei Priester und einen Mönch erblickten wir im Chor. Der Mönch war Dominikaner, ich kannte ihn vom Kloster.
Schaudernd ging ich weiter, langsam durchmaßen wir die riesige, stille, düstere Kathedrale.
»Haltet inne, Bruder Ranulf!«, flüsterte Lea mir zu und packte mich am Arm.
Wir lauschten. Tatsächlich: Irgendwo im Zwielicht bewegte sich jemand.
Ich glaubte auch, leise Schritte zu hören. Ich hob den Schürhaken und duckte mich. Der Unbekannte kam näher. Die Schritte schienen mir seltsam zu klingen, ganz leise und gar nicht menschlich. Stumm betete ich zum HERRN, dass er uns behüten möge. Ich sah einen Schatten am Rande einer Seitenkapelle.
»Halt!«, schrie ich da, sprang auf und hob den eisernen Haken. Ein Fauchen antwortete mir, eine rasche Bewegung, ein Schatten - dann war nichts mehr zu sehen.
Es war nur eine große schwarze Katze gewesen, ein Tier des Satans. Mein Herz schlug mir im Halse, Schweiß klebte auf meiner Haut. »Wir müssen weitersuchen!«, keuchte ich.
Doch so genau Lea und ich auch jede Kapelle und jeden Altar, jede Pforte und jeden Winkel erkundeten: Wir fanden nichts, das den Verschwörern als Versteck hätte dienen können. Nach wohl einer Stunde - es dunkelte schon und die Gewitterwand, die sich quälend langsam der Stadt näherte, stand endlich drohend über uns am Himmel - gaben wir die Suche im Innern auf.
Wir gingen nun draußen um die Kathedrale und wagten uns ins steinerne Dickicht der Strebepfeiler und Filialen, welches die Chorkapellen umhüllte. Es waren dies die Verstecke der Schönfrauen und ich musste unweigerlich an Jacquette denken.
Allerdings war hier kein sündiges Weib mehr, kein Bettler, überhaupt kein lebendes Wesen war mehr zu sehen. Nur Tote auch hier, doch war mein Blick schon so abgestumpft, dass ich nicht einmal mehr genau hinsah.
Schließlich standen wir wieder vor dem Portal unter der prachtvollen, steinernen Rosette, und sahen uns ratlos und verzweifelt an. »Wo mögen sich die Verschwörer verstecken?«, fragte ich. Da gab GOTT Lea ein Zeichen.
Denn sie blickte nach oben, da sie fürchtete, dass es gleich aus den düsteren Wolken regnen würde.
»Seht, Bruder Ranulf!«, rief sie da und deutete in den Himmel. Und dann bemerkte auch ich das Zeichen SEINES Zorns: Am finsteren Himmel kreisten wohl einhundert Raben. In großen Zirkeln flogen sie um die Kathedrale, als wären sie ruhelose Seelen, die noch an die Kirche gekettet waren. Wir sahen ihnen schreckensstarr zu, dann erkannten wir, dass sie um den südlichen Turm kreisten. Immer wieder stieß einer der schwarzen Vögel dort durch die steinernen Bögen ins Innere. Andere kamen heraus und flatterten davon, mit Fetzen im Schnabel. Ich konnte nicht sehen, was die Raben dort raubten — doch ich konnte es mir denken. »Dort oben liegen Tote«, flüsterte Lea. »Hinauf in den Turm!«, rief ich.
*
Wir eilten wieder hinein in die Kathedrale, wandten uns dort nach rechts und fanden eine Pforte. Als wir sie öffneten, entdeckten wir eine schmale, steinerne Wendeltreppe, die sich im rechten Turm der Kathedrale nach oben wand. Da keine der Fackeln, die in den eisernen Halterungen steckten, mehr brannte und nur ein paar schmale Fenster in großen Abständen in die Wände eingelassen waren, drang nur wenig Licht ins Innere. Wir mussten vorsichtig sein, dass wir nicht stürzten und uns die Glieder brachen.
Trotzdem rannte ich so rasch nach oben, wie es meine Kräfte zuließen. Den Schürhaken hielt ich umklammert. Lea folgte mir dichtauf. Irgendwann, vielleicht auf halber Höhe des Turms, hielten wir inne, um Atem zu schöpfen. Auch nutzte ich die kurze Pause, um zu lauschen.
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