Während er den Mann auf der gegenüberliegenden Seite des Eichentisches ansah, der den Raum beinahe in der Mitte teilte, fühlte sich Remigio Sensi in eine ferne Zeit zurückversetzt, in der er noch nicht aus Aragon nach Bologna zurückgekehrt und noch kein angesehener Bankier war.
Hugues de Narbonne hatte er in Tortosa kennen gelernt, anlässlich einer Begebenheit, an die er nur ungern zurückdachte.
Damals wie heute zählten die Tempelritter zu seinen besten Kunden. Sie brauchten oft Geld für ein neues Pferd oder ein Geschenk für ihre Geliebte, und konnten natürlich für diese Art Schulden keinen Kreditbrief zu Lasten ihres Ordens zeichnen.
Remigio berechnete ihnen einen ziemlich niedrigen Zinssatz, um sich nicht den Zorn des Erzbischofs von Tarragona zuzuziehen, denn im Grunde galt jeder zinspflichtige Kredit als Wucher. Da die Kirche jedoch wusste, dass sie die Tempelritter dringend brauchte, um Spaniens Süden von den Mauren zu befreien, drückte sie bei den Geldverleihern immer ein Auge zu.
Dennoch hatte Hugues de Narbonne seine Dienste nie in Anspruch nehmen müssen. Er war damals Kommandant von Akkon gewesen, verantwortlich für die Templerflotte und alle Waren, die sie transportierte, und hatte selbst nach dem Fall der Stadt im Jahr 1291 wichtige Aufgaben innerhalb des Ordens behalten. Er hatte reichlich Geld, und auch an Geliebten mangelte es ihm nicht, obwohl er Armut und Keuschheit gelobt hatte. Und was das Gebot des Gehorsams anbetraf, vermutete Remigio, dass der Franzose nur sich selbst gehorchte.
An dem Tag, an dem Hugues de Narbonne ihn aufgesucht hatte, hatte er ihm bewiesen, dass er genau über ihn und seine Geschäfte Bescheid wusste, obwohl sie einander noch nie begegnet waren. Hugues hatte ohne Umstände gefordert, Remigio solle seine berufliche Diskretion verletzen, auf der seine Glaubwürdigkeit als Geldverleiher und -wechsler gründete, und ihm die Namen einiger seiner Kunden und die Höhe ihrer Schulden enthüllen. Selbstredend hatte Remigio sich geweigert, worauf der Ritter ohne zu zögern auf ihn losgegangen war und ihm die Lippe aufgeschlagen hatte. Danach hatte er dem Geldverleiher seelenruhig erklärt, dass er ihn noch diese, spätestens aber nächste Nacht von einem gedungenen Mörder töten lassen würde, wenn er sich weigerte zu reden. Daraufhin würde sein Büro von den Soldaten des Königs durchsucht, um seinen Tod aufzuklären und er, Hugues, fände dann schon einen Weg, den Soldaten bei ihrer Aufgabe zu helfen. So würde er also auf jeden Fall erfahren, was er wissen wollte, und es läge nur an ihm, Remigio, ob er sein Leben verlieren wolle.
Daraufhin hatte Remigio seine Verzeichnisse geholt und sie ihm gezeigt.
Hugues hatte die Informationen benutzt, um die unaufrichtigen Ritter zu überführen. Aufgrund der Beweise wurden sie schwerer Verbrechen für schuldig befunden und aus dem Orden ausgeschlossen, weil man sie für unwürdig befand, ihm weiter zu dienen. Man hatte sie dann zu vielen Jahren als Rudersklaven auf spanischen Galeeren verurteilt.
Vielleicht war dieses Urteil gerecht gewesen. Aber es konnte auch sein, dass Hugues sich einfach nur unbequemer Feinde hatte entledigen wollen. Natürlich erlebten Remigios Geschäfte aufgrund dieser Indiskretionen einen Niedergang, von dem er sich nicht mehr erholte. Der Geldverleiher entschloss sich daraufhin, in seine Heimat zurückzukehren und in Bologna eine Bank zu eröffnen.
Inzwischen zählten vor allem die Scholaren des Studiums zu seinen Kunden; seine Beziehungen zu den Tempelrittern hatte er jedoch aufrechterhalten und weiterhin Geschäfte mit ihnen gemacht - selbst nachdem man den Orden öffentlich angeklagt hatte. Die Templer in Bologna, die sich der Verhaftung entzogen hatten, wandten sich an ihn, um Kredite zu erhalten oder um heimlich Land zu verkaufen, das die Kirche noch nicht beschlagnahmt hatte und empfahlen ihn auch Mitbrüdern in anderen Städten weiter.
An jenem Abend - die Klappe zur Straßenseite war schon seit einer Weile geschlossen - kam nach dem Nachtmahl einer der bewaffneten Diener, die der Bankier aus Sicherheitsgründen im Haus hatte, zu ihm und meldete, dass ein Reisender aus Tortosa ihn dringend zu sprechen wünsche. Remigio ging daraufhin ins Erdgeschoss - in der Annahme, dass er einen Templer vorfinden würde. Als er aber sah, dass Hugues de Narbonne auf ihn wartete, wurde ihm schwindelig und er wäre beinahe bewusstlos zu Boden gesunken.
Der Franzose war so elegant gekleidet wie immer. Ein blaues Gewand, das ihm gerade bis über die Knie reichte, ein Tribut an die neue Mode, die die männlichen Gewänder immer kürzer werden ließ, bleigraue Beinlinge und schwarze Halbstiefel. Er war sichtlich gealtert, und seine Locken, die unter dem weich fallenden Barett hervorkamen, wirkten inzwischen eher weiß als blond. Trotz allem war er aber immer noch eine beeindruckende Erscheinung. Hochgewachsen, kräftig, mit kantigem Kopf und einem grausam wirkenden Mund. Seine bloßen Oberarme waren mit einem dichten blonden Flaum bedeckt, und die Hände erinnerten an die Pranken eines Löwen. Remigio entschloss spontan, dass er den Franzosen besser empfing und allein mit ihm sprach, als zu versuchen, ihn mit Gewalt aus dem Haus zu entfernen. Dennoch wies er seine beiden Diener leise an, hinter der Tür zu warten und sofort hereinzustürmen, wenn er sie rief.
Sobald sie allein in seinem Arbeitszimmer waren, ließ der Geldverleiher alle Förmlichkeiten außer Acht und sprach Hugues de Narbonne direkt an: »Was auch immer Euch hierhergeführt haben mag, Messere, ich werde nichts für Euch tun. Absolut nichts.«
Diesmal war er sicher, dass er das Heft in der Hand hielt, aber als der Franzose aufstand, die Hände auf den Tisch stützte und sich ihm zuwandte, fühlte Remigio, wie ihm der Atem stockte.
»Ich muss Euch wohl nicht erinnern, was das letzte Mal geschehen ist, als Ihr mir einen Gefallen verweigert habt«, sagte Hugues de Narbonne und starrte ihn mit seinen grauen Augen gefährlich an.
»Die Zeiten haben sich geändert«, erwiderte Remigio und bemühte sich krampfhaft, keine Angst zu zeigen. »Euer Orden steht unter Anklage, der Großmeister De Molay sitzt im Gefängnis und könnte auf dem Scheiterhaufen enden, und die Häscher der Inquisition suchen nach Euch. Ich müsste nur laut rufen, und sofort hättet Ihr alle Schergen der Stadt auf dem Hals.«
»Und warum tut Ihr es dann nicht?«, forderte ihn der Franzose heraus.
Remigio sah ihn nur stumm an.
»Ich werde Euch sagen, warum«, fuhr Hugues de Narbonne fort. »Selbst wenn der Orden der Tempelritter angeklagt wird, bleiben sie weiterhin Eure besten Kunden, und wenn sich das Gerücht verbreitete, Ihr hättet den Kommandanten von Akkon verraten und verhaften lassen, würdet Ihr sie alle verlieren. Außerdem könnte ich den Dominikanern, solltet Ihr mich an sie verkaufen, verraten, dass Ihr als Mittelsmann für viele Geschäfte von Tempelrittern fungiert, die sich der Verhaftung haben entziehen können, dass Ihr viele ihrer Verstecke kennt und dass Euer Haus für die Mitglieder des Ordens, die auf der Durchreise sind, eine feste Anlaufstation ist. Was meint Ihr wohl, wie sie reagieren würden?«
»So etwas würdet Ihr Euren Mitbrüdern niemals antun«, erwiderte Remigio, doch seine Stimme klang nicht sehr überzeugend.
Jetzt war der Franzose an der Reihe, ihn stumm anzusehen, und sein Blick besagte mehr als eine lange Rede. Hugues de Narbonne war bereit, jeden zu opfern, um seine Ziele zu erreichen.
Es klopfte an der Tür. Auf Remigios »Herein!« betrat Fiamma den Raum. Sie hatte gehört, dass trotz der späten Stunde noch ein Kunde gekommen war, und wollte den Bankier nun unterstützen, indem sie wie immer die Dokumente ausfertigte.
Sie war unauffällig gekleidet, wie es einer jungen Frau ihres Alters geziemte, mit Pantoffeln und einer schlichten Tunika aus leichtem Wollstoff, die ihre weiblichen Formen verhüllte. Allerdings hatte sie ihre Haare wohl schon zum Schlafengehen gelöst und offensichtlich keine Zeit gehabt, sie neu zu frisieren. So flossen ihre blonden Locken, nur von einem Haarreif gehalten, damit sie ihr nicht in die Stirn fielen, ungebändigt über ihre Schultern, ein Anblick, dem nur wenige Männer zu widerstehen vermocht hätten. Sie hielt ihr Gesicht seitlich abgewandt, um dem Gast nur den unversehrten Teil davon zu zeigen. Remigio bemerkte genau den Blick, den Hugues de Narbonne auf sie warf.
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