Plötzlich ertönte ein erregtes Klopfen an der Tür, drei- oder viermal hintereinander. Mondino seufzte erleichtert, legte das Messer weg und ging hin, um zu öffnen.
Als er jedoch seinen Schüler Francesco Salimbene vor sich sah, der vollkommen verstört wirkte, blieb Mondino der Mund vor Überraschung weit offen stehen. Salimbenes Kopf war unbedeckt, die langen schwarzen Haare schmutzig, das Gesicht voller Schweißperlen, und in seinen blauen Augen leuchtete der Wahnsinn. Selbst im schwachen Schein der Öllampen sah man die Blutflecken auf seinem knielangen Gewand und den schwarzen besohlten Beinlingen. Mondino richtete den Blick auf den Mann, den Francesco um die Taille gepackt hielt, und bemerkte, dass es sich um einen Toten handelte. Bevor er irgendeine Reaktion zeigen konnte, stieß ihn der junge Mann jedoch bereits zurück und verschaffte sich mit Gewalt Zutritt ins Innere der Schule. Sobald er eingetreten war, schlug er die Tür mit der freien Hand hinter sich zu.
»Ich bitte Euch, Magister, schreit nicht«, sagte er, während er die Leiche vorsichtig auf dem Marmortisch ablegte. »Ich werde Euch alles erklären.«
Mondino nutzte diesen Moment, um zu dem Pult mit der geneigten Platte zu eilen, auf dem er das Messer abgelegt hatte. Er packte es entschlossen und stellte sich zwischen den jungen Mann und die Tür. Als er einen Blick auf den Toten auf dem Seziertisch warf, fiel ihm auf, dass dessen Arme verstümmelt waren - jemand hatte die Hände am Gelenk abgetrennt - und dass sein Gewand über der Brust blutgetränkt war.
»Ich habe nicht geschrien«, sagte er. »Aber ich habe auch nicht die Absicht, einen Mord zu decken. Erkläre mir also bitte, was mein schlechtester Schüler hier bei mir mit einer Leiche im Arm zu suchen hat. Dann werden wir die Häscher rufen und die Angelegenheit nach dem Gesetz regeln.«
»Dieser Mann, Angelo da Piczano«, sagte der andere, während er sich umdrehte und furchtlos das auf ihn gerichtete Messer betrachtete, »wurde auf schreckliche Weise getötet. Es scheinen Zauberkünste und ein Pakt mit dem Bösen im Spiel gewesen zu sein.«
»Hast du ihn getötet?«
Der junge Mann breitete entsetzt die Arme aus. »Natürlich nicht. Glaubt Ihr wirklich, dass ich dann zu Euch gekommen wäre, um Euch um Hilfe zu bitten?«
Das schwache Licht der Öllampen ließ seine Augen jetzt eher schwarz als blau aussehen. Mondino befürchtete, Salimbene lauerte nur darauf, dass er einen Moment nicht aufpasste, um dann zu versuchen, ihn zu entwaffnen. Sollte dem tatsächlich so sein, dann würde er aber am eigenen Leib erfahren, dass ein Arzt vielleicht besser als ein Soldat wusste, wie und wo er sein Messer im Fleisch versenken musste.
»Ich habe nicht gesagt, dass ich dir helfen werde«, meinte er ausdruckslos. »Fahr fort.«
»Ich kann Euch nicht alles erklären, Meister«, sagte der junge Mann. »Trotzdem bitte ich Euch, mir zu vertrauen und mir zu helfen, die Leiche dieses Mannes verschwinden zu lassen. Wenn die Inquisitoren sie finden, könnten viele Unschuldige darunter zu leiden haben.«
Mondino konnte kaum glauben, dass jemand so viel Dreistigkeit besaß. »Merkst du eigentlich, was du da von mir verlangst? Beweise für einen Mord verschwinden zu lassen ist ein schweres Vergehen. Und einen Mörder zu decken ein noch schwereres. Wenn du glaubst, ich sei bereit, dir zu helfen, irrst du dich gewaltig.«
»Also glaubt Ihr wirklich, ich hätte ihn getötet?«
In Salimbenes Stimme lag unendliche Traurigkeit, doch Mondino ließ sich davon nicht rühren. »Das ist die logischste Annahme, ja. Und um mich vom Gegenteil zu überzeugen, braucht es etwas mehr als ein einfaches ›Bitte vertraut mir‹.«
Mondino empfand zwar keine Angst vor seinem Schüler, dennoch war es unsinnig, überflüssige Risiken einzugehen. Am besten versuchte er, Zeit zu gewinnen. Bald würden die Totengräber mit der Leiche kommen, die er angefordert hatte. Er würde einen von ihnen schicken, um die Wachen zu holen, und alles käme zu seinem guten Ende. Er musste bis dahin einfach nur immer weiter mit Salimbene reden.
»Ich werde Euch so viel sagen«, meinte der junge Mann nach kurzem Zögern. »Ich heiße nicht Francesco Salimbene, sondern Gerardo da Castelbretone. Und diesem Mann hier schuldete ich Hilfe und Schutz, so wie er mir. Ich hätte ihm niemals etwas angetan.«
»Ist er mit dir verwandt?«
»Nein, warum?«
Der Arzt betrachtete den Toten. Er war um die vierzig, ein kräftiger Mann mit hartem Gesichtsausdruck, der ihn selbst im Tod nicht verlassen hatte. Er war nur mit einer Tunika bekleidet und trug weder einen Gürtel noch ein Obergewand.
»Weil er dir ähnlich sieht. Aber es ist mehr eine Ähnlichkeit des Wesens als der Gesichtszüge.«
Gerardo da Castelbretone, falls er denn wirklich so hieß, schien mit sich zu kämpfen. Dann lächelte er bitter und zuckte mit den Schultern. »Ihr habt ein scharfes Auge, Magister. Nein, er ist nicht mit mir verwandt. Doch zwischen uns herrscht eine ebenso tiefe Bindung, als wären wir Brüder. Ich bin ein Armer Ritter Christi und des salomonischen Tempels zu Jerusalem, genau wie er einer war. Dies muss die Ähnlichkeit sein, die Ihr zwischen uns bemerkt habt.«
Es folgte ein Moment des Schweigens, in dem Mondino die Nachricht in sich aufnahm, bevor er herausplatzte: »Du bist also ein Tempelritter! Deshalb benutzt du einen falschen Namen, lernst nicht und besuchst meine Stunden nur zum Zeitvertreib. Du gibst dich als Student aus, um dich der Verhaftung und dem Prozess gegen deinen Orden zu entziehen!« Mondino war so aufgebracht, dass er, das Messer schwingend, einen halben Schritt auf den jungen Mann zuging. »Und jetzt hast du beschlossen, aufrichtig zu mir zu sein, weil du Hilfe brauchst. Aber da hast du dich verrechnet. Die Streitigkeiten der Kirche interessieren mich nicht.«
Gerardo hob beschwichtigend beide Hände. »Bitte hört mich erst an, bevor Ihr eine Entscheidung trefft.«
»Rede«, sagte Mondino, ohne das Messer zu senken.
Der junge Mann erklärte, Angelo da Piczano sei ein Mitbruder, der sich der Verhaftungswelle durch Papst Clemens V. auf Betreiben des Königs von Frankreich, Philipp des Schönen, hatte entziehen können und nach Neapel geflüchtet war. Sie hatten einander in Ravenna kennen gelernt, wo Gerardo seine Lehrzeit absolvierte, um in den Orden aufgenommen zu werden, und hatten trotz des Altersunterschiedes Freundschaft geschlossen. Vor vier Monaten hatte Angelo ihm geschrieben, dass er wegen dringender Angelegenheiten nach Bologna kommen müsse, natürlich inkognito, und ihn um einige Tage Gastfreundschaft gebeten.
»Ich habe ihm geantwortet, meine Unterkunft stünde ihm zur Verfügung, und so ist er vor fünf Tagen hier eingetroffen.«
»Hat er dir erzählt, welche Angelegenheiten ihn in unsere Stadt führten?«, fragte Mondino. Gegen seinen Willen begann ihn die Angelegenheit zu interessieren. Er hatte zwar nicht verstanden, was der junge Mann mit seiner Bemerkung von einem Pakt mit dem Bösen gemeint hatte, doch allein die verstümmelten Arme der Leiche waren ein deutliches Zeichen dafür, dass der Templer nicht in irgendeiner Wirtshausschlägerei umgekommen war oder bei einem Raubüberfall.
»Nein, und ich habe ihn auch nicht gefragt«, antwortete Gerardo. »Es sind schwierige Zeiten für uns. Und je weniger einer vom anderen weiß, desto besser.«
Mondino nickte, worauf der junge Mann in aller Kürze seine Geschichte zu Ende erzählte. An diesem Abend hatte ihn Angelo gebeten, ihm die Wohnung allein zu überlassen. Er musste sich mit jemandem treffen und wagte es nicht, sich an einem anderen Ort in der Stadt zu verabreden, weil er eine Falle fürchtete. Gerardo hatte ihm erklärt, wie er bei Gefahr über die Dächer fliehen könnte, dann hatte er in einer Schänke beim Mercato di Mezzo zu Abend gegessen und sein Möglichstes versucht, um sich den Angeboten der Dirnen zu entziehen, ohne zu offenbaren, dass er ein Mönch war.
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