»Pater«, sagte Athelstan, »bitte, wann war das? Vor drei odervier Jahren?«
Der Priester starrte ins Feuer.
»Ja … vor drei Jahren«, antwortete er schließlich. »Aber mehr kann ich Euch wirklich nicht sagen.« Er lächelte.
Cranston beugte sich vor und packte den Priester am Handgelenk.
»Pater, Eure Gastfreundschaft ist so wertvoll wie das, war Ihr uns da erzählt habt.« Er sah Athelstan an und lächelte. »Komm, Bruder, es ist noch nicht einmal Mittag. Wenn wir schnell reiten, können wir vor Anbruch der Dunkelheit wieder in der Stadt sein.« Er sah Pater Peter an. »Ich danke Euch, Pater.« Er drehte sich um und warf dem Jungen, der immer noch in der Ecke hockte, einen Penny zu. »Und du, mein Junge, wirst entweder ein guter Knappe oder ein Kaufmann.«
Sie erhoben sich, zogen ihre Mäntel an, und eine Stunde später lag Woodforde bereits hinter ihnen. Sie ritten durch Leighton, vorbei an dem grausigen Schafott mit dem frischen Grab, und gelangten wieder auf die Mile End Road. Cranston hatte sich in einer Dorfschenke seinen wunderbaren Weinschlauch füllen lassen und plauderte jetzt munter drauflos.
»Es ist möglich, Bruder«, dröhnte er zum x-ten Mal, und seine bärtigen Lippen waren rot vom Saft der Trauben, »durchaus möglich, daß Sir Bartholomew noch lebt und im Tower oder ganz in der Nähe versteckt seinen lautlosen Rachefeldzug führt.«
»Sir John«, erwiderte Athelstan, »das könnte ja sein, aber wie sollte Burghgesh sich tarnen? Als Mitglied der Garnison? Als Küchengehilfe? Als Händler, der Zugang zum Tower hat?« Cranston machte ein ordinäres Geräusch.
»Oder«, fuhr Athelstan fort, »hockt er wie eine schwarze Spinne irgendwo in der Stadt, und andere führen seine grausigen Befehle aus?«
Cranston zügelte sein Pferd.
»Merkwürdig, weißt du«, brummte er.
»Was denn?«
»Na, vor drei Jahren war Whitton verstört und aufgeregt, als hätte er einen Geist gesehen. Gleichzeitig wurde eine Gestalt in Mantel und Kapuze in einer Taverne am Tower gesehen. Und dieselbe Person, wahrscheinlich Burghgesh, wurde in Woodforde gesichtet.«
»Wollt Ihr damit sagen, Whittons Aufregung war durch Burghgeshs plötzlichen Auftritt ausgelöst worden?«
» Selbstverständlich.«
»Aber wenn das stimmt, was soll seitdem aus Burghgesh geworden sein?«
Die beiden erörterten immer noch ihre widersprüchlichen Theorien, als sie lange nach Einbruch der Dunkelheit Aldgate erreichten und durch eine kleine Pforte im Tor in die Stadt gelangten. Berauscht von Wein und seinen Ideen, war Cranston inzwischen sicher, daß sie die Wahrheit gefunden hatten. Athelstan widersprach nicht mehr. Zumindest, dachte er, hatte die Reise nach Woodforde den Coroner von seinen unaufhörlichen, qualvollen Grübeleien über das geheimnisvolle Verhalten der Lady Maude abgelenkt.
*
Während Athelstan und Cranston zur Stadt zurückritten, stand der Hospitaliter Fitzormonde im Innenhof des Tower und betrachtete den riesigen Bären, der sich Essensreste aus der Küche in den Rachen stopfte. Wie Athelstan war auch Fitzormonde fasziniert von der Bestie und bewunderte insgeheim den verrückten Rothand, der als einziger wagte, sich dem Tier zu nähern. Auf all seinen Reisen hatte Fitzormonde noch nie ein so gewaltiges Untier gesehen. Die meisten Bären waren klein und schwarz, manchmal nicht größer als ein Mensch. Dieses große, zottelhaarige Tier erinnerte ihn an die Geschichten, die Ritter erzählt hatten, nachdem sie in den Teutonischen Orden in den wilden schwarzen Wäldern des Nordens gewesen waren. Sie hatten von Rehwild gesprochen, das doppelt so groß sein sollte wie irgendeines in England, und von Bären, so riesig wie dieser hier, der mit seinen gewaltigen Vorderpfoten ein Pferd zerquetschen könnte.
Der Bär hörte plötzlich auf zu fressen und funkelte den Ritter an. Seine kleinen Schweinsäuglein waren rot und voller Haß. Er riß das Maul auf und entblößte bösartig scharfe Zähne. Ein Grollen drang aus seiner Kehle. Das schwere Tier zerrte an der dicken Eisenkette. Fitzormonde machte ein paar Schritte zurück, und der Bär widmete sich wieder seinem Fressen. Er schob die Abfälle zu einem schmutzigen Haufen zusammen, als wolle Fitzormonde ihm etwas wegnehmen. Der Ritter stampfte mit den Füßen, um sich zu wärmen. Morgen würde er den Tower verlassen, dachte er. Mistress Philippa hatte er bereits informiert, als er ihr und ihrem ziemlich weibischen Verlobten begegnet war.
Fitzormonde schaute hinauf zu den grausamen Fratzen der Wasserspeier oben an der Kapelle von St. Peter ad Vincula. Ja, dachte er, morgen würde er dem Kaplan etwas zahlen, damit dieser eine letzte Messe für seine gefallenen Kameraden las, und dann würde er in die Stadt zurückkehren und seine Oberen um eine Mission oder Aufgabe bitten, die ihn weit wegführen würde von dieser finsteren Festung.
Als er ein Schwirren in der Luft hörte, schrak er hoch. Er schaute in die Höhe. Ein Rabe? Nein, was war es? Der Bär erwachte plötzlich zum Leben, bäumte sich vor ihm auf und schlug mit den riesigen Pranken in die Luft. Der Hospitaliter sprang in jäher Panik zurück. Der Bär brüllte wütend auf. Seine schwarzen Lefzen und der mächtige Kiefer waren von dickem weißem Schaum bedeckt. Fitzormondes Hand fuhr zum Dolch, als der Bär wie ein Dämon zu tanzen begann und an der schweren Kette zerrte, die an der Mauer befestigt war. Was hatte das Tier nur? Was war passiert?
Fitzormonde wollte davonlaufen, aber bevor er sich umgedreht hatte, hörte er, wie die Eisenkette aus dem Haken in der Mauer sprang und der Bär auf ihn losstürzte. Er zerrte an seinem Dolch und hatte ihn nur halb gezogen, als eine krallenbewehrte Pranke ihm schon den Kopf zerschmetterte wie einen faulen Apfel. Wutentbrannt schlug der Bär seine Klauen in den ungeschützten Rücken des sterbenden Ritters und schleifte ihn über das Pflaster. Rasendes Geheul kündete von seinem Triumph.
Athelstan war wütend. Er fühlte den Zorn in seinen Gedärmen brennen, bis ihm das Blut in den Ohren rauschte. Für einen Augenblick war dem Bruder alles egal - die Lehren seines Ordens über die Sanftmut oder die Verpflichtung zur Güte, die das Evangelium enthielt. Jetzt zählte nur noch der Zorn, der in ihm tobte, als er auf dem Friedhof vor der Kirche von St. Erconwald stand. Der Schnee hatte sich in eisigen Matsch verwandelt, der von Gräbern, Bäumen, Büschen und niedrigen Friedhofsmauern tropfte; bei klarem Himmel und kraftloser Wintersonne hielt das Tauwetter an. Athelstan fluchte und benutzte jedes Schimpfwort, das er von Cranston gelernt hatte. Mit dem Stab schlug er gegen das lose Mauerwerk und hätte am liebsten die Ziegel zu Staub zermahlen.
Oh, bei seiner Rückkehr war alles in bester Ordnung gewesen:
Bonaventura hatte wohlig zusammengerollt wie ein fetter Bischof in der Kirche geschlummert. Cecily hatte das Kirchenschiff gefegt und gewischt; Benedicta und Watkin hatten in einem Seitengang die Krippe aufgestellt - mit Figuren, die Huddle geschnitzt hatte. Gleich über dem Taufbrunnen am Eingang der Kirche hatte der Maler auch ein leuchtend buntes Bild Christi in der Krippe vollendet. Sogar Ursulas Schwein hatte diesmal die üblichen Raubzüge durch seinen Garten unterlassen, und Pike, der Grabenbauer, hatte den Kiesweg vor der Kirche gereinigt.
Athelstan war zufrieden gewesen und hatte über Pfarrangelegenheiten geschwatzt, während er Philomel in den Stall gebracht, getränkt und gefüttert hatte. Aber schon da war ihm die bange Sorge in den Gesichtem derer aufgefallen, die ihn begrüßt hatten: Benedicta, Pike, Watkin, Cecily und Tab, der Kesselflicker. Sie waren ihm um die Kirche herum gefolgt, hatten seine Fragen beantwortet und dabei verstohlen ängstliche Blicke gewechselt.
Anfangs hatte Athelstan ihre Unruhe nicht so ernst genommen. Vielleicht hatte Cecily wieder geflirtet, oder einer von Pikes Söhnen hatte in die Kirche gepinkelt. Oder hatte Ranulf sich Bonaventura ausgeliehen? Hatten Watkins Kinder aus dem Weihwasserbecken getrunken? Die Mitglieder seines Gemeinderates umgaben ihn wie gackernde Hühner. Schließlich hatte Athelstan genug von ihrer Heimlichtuerei.
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