»Gütiger Gott«, murmelte Cranston. »Ihr Priester solltet das schleunigst ändern. Nur der Herr im Himmel weiß, weshalb der arme Hund sich umgebracht hat. Aber muß man einen Selbstmörder wirklich am Kreuzweg bei einem Galgen begraben und ihm vorher mit einem Pfahl das Herz durchbohren?«
»Die Bischöfe haben versucht, dem ein Ende zu machen«, sagte Athelstan. »Aber in gewissen Gegenden und auch auf gewissen Herzen, Sir John, liegen die Lehren Christi so dünn und lose wie ein Spinnennetz.«
Sie ritten durch Leighton und folgten dem Weg, der an den dunklen Massen des Epping Forest vorbei nach Woodforde führte. Als die Glocke zur neunten Stunde schlug, hatten sie das Dorf erreicht. Es war reizlos. Ein paar Dörfler, mit Kapuzenmänteln vor der Kälte geschützt, liefen umher und scheuchten dürre Hühner vor den Pferden weg. Ein paar Jungen zogen abgenutzte Holzeimer aus einem Brunnen herauf, und hier und da kippte eine Hausfrau den Inhalt des Nachttopfes mitten auf die Straße. Sogar das Ale-Haus war noch verriegelt und verrammelt.
»Wie ein Dorf der Toten«, murmelte Athelstan.
»Aye, das kann gut sein, Bruder«, antwortete Cranston durch seinen Schal. »Bei der Kälte kann niemand auf den Feldern arbeiten.«
Ein kleiner Junge, das Gesicht vor Kälte weiß verkniffen, lief plötzlich feierlich neben ihnen her; mit der einen knochigen Hand umklammerte er einen schmutzigen Segeltuchbeutel. Athelstan zügelte Philomel.
»Was gibt es, Junge?«
Der Junge starrte mit runden Augen wortlos auf Philomels Schwanz.
»Komm schon, Kleiner - was willst du?«
»Mutter sagt, ich soll mitgehen. Sagt, ich soll warten, bis das Pferd den Schwanz hebt.«
Cranston gluckste. »Er wartet darauf, daß unsere Pferde scheißen. Das ist guter Dünger, und wenn man es trocknet, brennt es warm und fröhlich.«
Athelstan schlug grinsend seine Kapuze zurück, wühlte in seiner Börse und warf dem Jungen einen Penny zu. »Du kannst alles haben, was unsere Pferde fallen lassen, mein Junge«, erklärte er. »Hier ist ein Penny für deine Mühen. Du kennst doch die Familie Burghgesh. Sie haben hier ein Herrenhaus.«
»Oh, alle weg«, antwortete der Bengel, ohne den Blick von Philomels Schwanz zu wenden. »Das Haus liegt hinter dem Dorf bei Buxfield, aber es ist leer und zugeschlossen. Pater Peter weiß Bescheid.« Er deutete auf die ziegelgedeckte Kirche, deren grauer Schieferturm über die Baumwipfel ragte.
Athelstan trieb Philomel an. »Dann machen wir dort halt.«
Sie ritten durch die Pforte auf den Kirchhof und folgten einem Pfad, der sich zwischen Bäumen und überwucherten Gräbern auf die normannische Kirche zuschlängelte. Daneben stand ein bescheidenes, einstöckiges Haus mit gelbem Strohdach; die Fenster waren einfache Holzläden. Athelstan sah sich um. Der Junge stand immer noch hinter ihm, den Beutel in der einen Hand, die andere zur Faust geballt, um Athelstans Penny zu bewachen, als wäre er der Schlüssel zum Himmelstor.
»Ist Pater Peter da?«
»Er ist drinnen«, sagte der Junge. »Und für noch einen Penny passe ich auf Eure Pferde auf.«
Athelstan nickte, und noch eine Münze flog durch die Luft. »Dieser junge Mann wird es noch weit bringen«, knurrte Cranston, als sie abstiegen und an die Tür klopften. Riegel wurden zurückgezogen, die Tür ging auf, und ein glattrasierter, fröhlicher Pater Peter schaute heraus.
»Reisende bei diesem Wetter?« Er sprach rollenden bäuerlichen Dialekt; seinem schneeweißen Haar und den leicht gebeugten Schultern zum Trotz war Pater Peter ein tatkräftiger, fröhlicher Mann. Er wartete nicht, bis sie sich vorgestellt hatten, sondern zog sie gleich in seine warme, duftende Stube, und er fragte und plauderte wie eine Elster. Zugleich nahm er ihnen die Mäntel ab, und sie mußten sich auf eine Bank setzen, die er vor das warme Feuer schob.
»Ein Coroner und ein Dominikaner kommen mich besuchen«, verkündete er in gespieltem Erstaunen. Er nahm drei irdene Schüsseln aus einem kleinen Schrank neben dem Kamin und verteilte üppige Portionen Suppe aus einem schwarzen Topf, der bedenklich schaukelnd an einem Eisenhaken über dem Feuer hing. Dann setzte er sich zu ihnen. »Rindfleisch, ein paar Kräuter, und was ich noch an Gemüse habe.« Der Priester verdrehte die Augen. »Ach ja, und ein paar Zwiebeln.«
Athelstan und der Coroner nahmen die warmen Schüsseln und tranken von der kräftigen Brühe, die ihnen zwar den Mund verbrannte, aber ein wenig Wärme in ihre kalten Bäuche brachte. Pater Peter sah ihnen zu. Athelstan lächelte und stellte seine Schüssel auf den Boden.
»Sie ist noch zu heiß, Pater«, sagte er entschuldigend. »Man kann den Topf nicht mal halten.«
Cranston kannte solche Schwierigkeiten nicht. Er schlürfte geräuschvoll wie ein verhungernder Hund und wischte das Gemüse mit harten Brotkrusten auf, die Pater Peter ihm auf einem Holzteller hinschob. Endlich rülpste er, wischte sich den Mund ab und gab seine Schüssel zurück.
»Das Beste, was ich seit Tagen gegessen habe, Pater. Wir danken Euch für Eure Gastfreundschaft.« Der Coroner streckte seine großen Hände dem Feuer entgegen. »Wir wollen Euch nicht lange aufhalten. Ihr kennt die Familie Burghgesh?«
Die Augen des Paters wurden schmal. »Aye«, antwortete er. »Ich weiß, wer sie sind.«
Athelstan begann vorsichtig, seine inzwischen etwas abgekühlte Suppe zu trinken.
»Werdet Ihr uns von ihnen erzählen, Pater?«
Der Priester zuckte die Achseln. »Was gibt es da zu sagen? Bartholomew Burghgesh und seine Frau wohnten in einem Herrenhaus bei Buxfield. Bartholomew war immer ein rastloser Mann, geboren für Schwert und Pferd, nicht für den Pflug und die Kontobücher des Gemeindedieners. Er ging nach London und diente im Gefolge der Großen. In den Tagen des alten Königs war er in der Garnison des Tower; dann zog er mit anderen nach Outremer, um dort zu kämpfen.«
»Und seine Frau?«
Pater Peter zuckte die Achseln. »Sie war eine stille, kränkliche Frau. Sie hatten einen Jungen … wie hieß er noch? Ach ja, Mark.« Der Pater seufzte. »Sie waren gut versorgt. Ein Verwalter führte das Gut, und Bartholomew schickte immer wieder Gold. Und dann - vor vierzehn, fünfzehn Jahren - kam die Nachricht von Bartholomews Tod. Er war an Bord eines Schiffes gewesen, das die Mauren im Mittelmeer gekapert hatten, und sie haben ihn umgebracht. Da war Mark schon ein junger Mann.
Der Tod seines Vaters schien ihn wenig zu berühren, aber die Mutter wurde krank und starb knapp ein Jahr nach ihrem Mann.«
»Und Mark Burghgesh?«
»Er war wie sein Vater, hatte den Kopf voller Geschichten über Roland und Oliver und vollbrachte Meisterleistungen mit seinen Waffen. Eine Zeitlang war er der Lord des Herrenhauses. Als der alte König seine Siege in Frankreich errungen hatte, lieh Mark Geld bei den Bankiers, kaufte sich ein Schlachtroß und eine Rüstung und stellte aus gleichgesinnten Männern des Dorfes einen kleinen Trupp Bogenschützen zusammen.« Der Priester schwieg und schaute ins Feuer. »Ich erinnere mich noch an den Morgen ihrer Abreise«, fuhr er dann versonnen fort. »Es war ein herrlicher Sommertag. Sir Mark auf seinem schwarzen Schlachtroß, das dunkelrote Haar eingeölt und gekämmt. Vor ihm ging sein Knappe mit einem Wimpel, der das Wappen der Burghgeshs trug, und dahinter marschierten sechs Bogenschützen mit Helmen, gesteppten Wämsern, Langbogen und Köchern voll gefiederter Pfeile. Was für ein Anblick.« Der Priester wiegte sich leicht vor und zurück. »Keiner kam zurück«, sagte er leise. »Sie starben alle in Blut und Schlamm.« Athelstan hielt den Atem an. Genauso klang seine eigene Geschichte. Er und Francis hatten sich auch einem solchen Gefolgszug angeschlossen. Athelstan war zurückgekommen, aber der Leichnam seines Bruders vermoderte auf irgendeinem gottverlassenen Feld in Frankreich.
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