»Es ist herrlich, glückliche Menschen zu sehen«, sagte La Mettrie in akzentgetränktem, aber fehlerlosem Deutsch.
»Glücklich, Monsieur?«, fragte Quantz. »Ich denke eher, ich hatte großes Pech. Schließlich habe ich Verpflichtungen, von denen mich dieser Zwischenfall abhalten könnte.«
»Oh …« La Mettrie winkte ab. »Ich weiß, ich weiß. Sie sind der Maître de Musique des Königs und müssen nach Berlin. Aber wenn Sie wirklich Pech gehabt hätten, Monsieur, wären Sie jetzt tot. Oder würden mit gebrochenen Beinen am Straßenrand liegen. Und nehmen wir an, es wäre so gekommen – mit den gebrochenen Beinen, verstehen Sie? –, wie sehr würden Sie sich dann das Glück wünschen, gehen zu können. Und wenn Sie fühlten, dass der Tod naht, wie sehr würden Sie sich wünschen gesund zu sein und aufrecht zu stehen, so wie Sie es jetzt können. So sind sie also in einem glücklichen Zustand. Und Sie erhalten auch noch Hilfe.«
D’Argens wiegte den Kopf. »Monsieur La Mettrie lässt keine Gelegenheit aus, seinen philosophischen Verstand zu gebrauchen. Wir haben, gerade als wir Ihren Unfall sahen, über die Frage des Glücks gesprochen, die ihn sehr interessiert. Sie wissen ja, wir Franzosen diskutieren gern über dies und das …«
»Es ging um die Frage, ob auch ein Todkranker glücklich sein kann«, schaltete sich La Mettrie ein. »Und ich war der Ansicht, dass es keinen Zustand im Leben gibt, in dem man nicht das Glück …«
Glück?, dachte Quantz. Wie konnte jemand, der den Menschen als Maschine sah, von Glück sprechen? Setzte die Glücksempfindung denn keine Seele voraus? Diese Philosophen …
D’Argens fiel seinem Reisebegleiter ins Wort. Er sprach französisch, doch Quantz, der dieser Sprache durchaus mächtig war, verstand ihn sehr gut. »Lieber Herr La Mettrie, lassen Sie uns nicht noch mehr unnötige Zeit verlieren.« Er wechselte ins Deutsche und sah Quantz an. »Ich sehe, Sie benötigen Hilfe. Selbstverständlich nehmen wir Sie mit nach Berlin.«
Quantz neigte das Haupt. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, Messieurs …«
»Ganz recht«, rief La Mettrie dazwischen. »Machen wir Ihr Glück vollkommen – und nicht nur das Ihre. Bringen wir Sie zu Ihrem, ich meine natürlich zu unser aller König, und tragen wir auf unsere Weise dazu bei, dass das Souper in Monbijou durch die kostbare Kunst der Musik Veredelung findet.« Er grinste und zeigte dabei bemerkenswert makellose Zähne.
Quantz fragte sich, ob La Mettrie durch seine übertriebene Art Spott zum Ausdruck bringen wollte. Der französische Hof war bekannt dafür, dass man dort seine Meinung kundtat, indem man genau das Gegenteil von dem behauptete, was man meinte.
Er wandte sich an Franz. »Du kannst den Korb mit dem Proviant haben. Du hast ihn nötiger als ich, während du auf deinen Herrn wartest.«
Der Junge bedankte sich. Er hatte inzwischen die fahruntüchtige Kutsche von der Fahrbahn geschoben.
» Oh mon dieu – Sie werden wenig Platz haben«, rief La Mettrie. Quantz warf einen Blick in die Kabine und sah, was er meinte. Die ganze Kutsche war bis auf zwei enge Plätze mit übereinandergestapelten Koffern gefüllt. Der Packraum auf dem Dach hatte offenbar nicht ausgereicht.
»Ein ganz schmales Stück der Bank bleibt, auf dem Sie sich niederlassen können«, sagte d’Argens.
»Aber Monsieur Quantz hat ebenfalls Gepäck«, rief La Mettrie.
Nach etwas Hin und Her beschlossen sie, Quantz’ Koffer noch in die Kabine zu stopfen. Er selbst musste sich neben den Fuhrmann auf den Bock quetschen. Für einen Mann seines Ranges und seiner Position am Hofe war das eigentlich nicht der richtige Platz zum Reisen, doch die Zeit wurde knapp. So ließ er Franz und den Kutscher der beiden Franzosen seine Koffer verstauen. Sie stiegen zu, und es ging weiter in Richtung Berlin.
Quantz versuchte, die entspannte Atmosphäre der ersten Weghälfte wiederherzustellen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Es war eben etwas ganz anderes, hier oben im Freien auf dem schwankenden Bock zu sitzen und sich auch noch bei jeder Unebenheit des Weges festhalten zu müssen.
Sie passierten Steglitz, und Quantz freute sich darauf, in der Ferne den Kreuzberg auftauchen zu sehen. Dann war es nicht mehr weit bis zum Potsdamer Tor.
Nach und nach wurde ihm bewusst, dass sich d’Argens und La Mettrie lautstark auf Französisch unterhielten. Wenn die Kutsche langsamer fuhr, konnte Quantz deutlich die einzelnen Worte verstehen, die aus der Kabine drangen.
»Und wissen Sie, was ich dann geschrieben habe?«, fragte La Mettries schneidende Stimme gerade. »Das glauben Sie nicht … Sie kommen nie drauf …«
»Was ich glaube oder nicht, ist völlig egal, denn Sie werden es mir gleich sagen«, brummte d’Argens, als ob ihn das Gespräch langweile.
»Hören Sie gut zu, mein lieber Marquis, und achten Sie auf die Feinheit der Formulierung. Hören Sie: Ein Genuss, egal welcher, darf niemals Reue verursachen. Was sagen Sie nun? So wenige Worte. Und so treffend. Denn das ist es doch, woran die Menschen leiden, und das ganz überflüssigerweise. Sie glauben, sie müssten Schuldgefühle haben, wenn sie genießen. Aber Schuldgefühle sind unvernünftig und haben daher keine Existenzberechtigung. Sie zerstören das Glück. Glück mit Reue gibt es nicht. Glück mit Schuldgefühlen gibt es nicht. Also nur ohne diese.«
D’Argens lachte auf. »Von Ihnen, mein lieber La Mettrie, habe ich nichts anderes erwartet. Aber machen Sie es sich da nicht etwas einfach? Ich kenne eine Menge Leute, die anderer Ansicht wären. Schließlich gibt es auch unmoralische Genüsse. Und wer Moral empfindet, empfindet auch Reue. Denken Sie nur an alle bekennenden Christen – um mal klein anzufangen.«
»Aber das ändert doch nichts daran, dass ich recht habe«, rief La Mettrie. »Ich sage ja nicht, wo die Reue herkommt. Ich sage nur, dass sie das Glück schmälert und vernichtet. Ich werde darüber schreiben, und alle Welt wird es lesen. Und wenn die alten Pfaffen über mich herziehen, wird mich der König beschützen.«
»Wir sprechen immer nur davon, was Sie schreiben und was Sie denken, lieber La Mettrie. Denken Sie doch mal an den Roman, den ich gerade schreibe.«
»Die Geschichte von der Jungfrau, die es mit einem Priester treibt?« La Mettrie brach in Gelächter aus. »Da haben Sie es ja. Ein gutes Beispiel. Wissen Sie was? Das werde ich zitieren. Die Pfaffen sind ja selbst die Größten darin, die viel beschworene Reue über den Haufen zu werfen, wenn es einer angeblich unmoralischen Befriedigung dient.«
»Angeblich unmoralisch? Na hören Sie! Der Priester erklärt in der Geschichte einer ahnungslosen und naiven Jungfrau, sein Geschlechtsorgan sei der Strick des heiligen Franziskus. Durch diese plumpe Täuschung gelingt es ihm, das Mädchen zum Geschlechtsverkehr zu bewegen. Dieses Glück, das er genossen hat – sollte es keine Reue zeitigen? Keine Schuldgefühle? Er hat immerhin ein Verbrechen begangen!«
Quantz spitzte die Ohren. Die beiden hatten ja brisante Gesprächsthemen. Beide Herren stellten die Grundsätze der Moral in Frage. Der eine verpackte seine Thesen in philosophische Vorträge, der andere in einen pornografischen Roman.
Ob es ihnen egal war, dass er zuhörte? Sicher wussten sie nicht, wie gut er des Französischen mächtig war. Quantz blickte zu dem Kutscher, aber der verstand nichts.
»Sie machen den Fehler, lieber Marquis, gleich Moral zu predigen. Betrachten wir doch einmal das Glück Ihres Priesters als solches. Für sich sozusagen. Lösen wir es aus der Tat der Schändung heraus.«
»Ich versuche es, aber es will mir nicht gelingen.«
»Ich denke, mein Lieber, Sie sind intelligent genug. Also, das Glück, das dieser Geistliche empfindet – glauben Sie, es wird geschmälert, wenn er sich bewusst ist, dass er etwas Unrechtes getan hat?«
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