Weyhe betrachtete Quantz, als wäre er ein exotisches Tier in einem Kuriositätenkabinett. Ob der Rat wirklich verstand, wovon Quantz hier sprach?
»Andreas Freiberger ist ein Idiot«, stellte Weyhe klar. »Seine Majestät wird seine Gründe haben, warum er ihn zum Hoflakaien gemacht hat. Doch er ist und bleibt ein Idiot.«
»Sehen Sie, genau das ist es. Er mag die Noten gestohlen haben. Mehr ist jedoch nicht geschehen. Lassen Sie es auf sich beruhen.«
»So etwas kann man nicht auf sich beruhen lassen. Ich verstehe in mancherlei Hinsicht nicht, was Seine Majestät dazu gebracht hat, bestimmte Leute an den Hof zu holen. Ich versuche nachzuvollziehen, welche Aufgaben dieser Freiberger hatte. Er versah seinen Dienst im Schloss. Aber man schickte ihn auch herum. Zu den Kammerherren, die in der Stadt wohnen. Man gab ihm vertrauliche Botschaften in die Hand … Niemand durchschaut wirklich die Absichten des Königs, obwohl Seine Majestät sich gern selbst als Diener des Staates hinstellt. Doch was ist denn der Staat, Herr Musikus? Können Sie mir eine Antwort auf diese Frage geben?«
»Der Staat? Herr Weyhe, Herr Rat … Ich denke, wir sprechen über den Diebstahl von Noten …« Quantz suchte nach Worten. Schon wieder hatte es dieser junge Mensch geschafft, das Gespräch auf Themen zu bringen, die fast schon philosophischer Natur waren. Und seine Reden mündeten immer wieder in rhetorische Fragen. Das hatte er sich wohl auch von Seiner Majestät abgeschaut.
» Der Staat bin ich . Das hat der französische König gesagt. Unser König will aber nicht selbst der Staat, sondern Diener des Staates sein. Der höchste Diener desselben. Aber was bleibt dann? Was stellt den Staat dar?«
»Ich weiß es nicht, Herr Rat … Und ich hatte auch nicht die Absicht –«
» Wir sind es«, sagte Weyhe. »Wir. Das Volk. Oder nicht? Aber dient der König uns? «
Quantz wollte einwenden, dass er nicht für solche Diskussionen hergekommen sei, dass er gehen wollte. Ihm wurde heiß bewusst, was Weyhe da eben gesagt hatte. Es klang wie … eine Kritik am König. Eigentlich sogar wie Majestätsbeleidigung. Dabei hatte der Rat nur einen Gedanken weitergeführt, wie es Seine Majestät selbst manchmal machte.
»Wie kann Seine Majestät etwas beherrschen, dem er selbst dient, Herr Musikus? Können Sie mir das erklären?«
»Ich hoffe, Sie meinen die Frage nur rhetorisch«, sagte Quantz. »Sie werden von mir keine Äußerung hören, die Zweifel an unserem König zum Ausdruck bringt.«
»Rhetorisch oder nicht rhetorisch. Gedanken sind Gedanken. Ich bin ein treuer Diener Seiner Majestät, aber manchmal glaube ich, man muss diesen König vor sich selbst schützen.«
»Wie bitte?« Quantz fühlte sich wie auf glühenden Kohlen. Er wollte sofort hier weg. In einem Schloss hatten die Wände Ohren. Wollte ihn Weyhe in eine Falle locken? Lauschten bezahlte Zeugen an der Tür, die ihn später des Verrats beschuldigen würden? Sollte er in diese eigenartigen Gedanken einstimmen, um dann dafür bestraft zu werden? »Wenn wir nicht mehr über Andreas sprechen, dann ziehe ich es vor, zu gehen, Herr Rat.«
Weyhe stand auf, schob den Sessel zurück und ging ein paar Schritte hinter dem Schreibtisch auf und ab. »Aber wir sprechen doch über ihn, Herr Quantz, merken Sie das nicht?«
»Ehrlich gesagt ist es mir nicht aufgefallen.« Quantz wollte sich ebenfalls erheben, doch Weyhe legte ihm die Hand auf die Schulter und hinderte ihn daran. Es war die fettverschmierte Hand, mit der der Rat den Hühnerschenkel gehalten hatte.
»Seine Majestät hat zwei Leidenschaften«, sagte Weyhe. »Auf der einen Seite Kunst, Musik, Literatur, Philosophie. Geist. Auf der anderen das Wohl des Staates. Lassen wir dahingestellt, was Seine Majestät unter dem Staat versteht. Aber er braucht Soldaten. Er braucht Diplomaten. Er braucht Generäle. Er braucht Berater. Er führt einen ständigen Krieg.«
»Krieg? Herr Weyhe, der Krieg ist vorbei. Seit Jahren schon. Ich hoffe, das ist Ihnen nicht entgangen.«
Weyhe beugte sich nach vorn und stützte die Arme auf die Tischkante. Dabei fixierte er Quantz. »Es ist vorbei, dass Soldaten aufeinander losgehen. Es ist vorbei, dass sie sich in Schlachten gegenseitig abschießen. Vorerst. Jahrelang hat unser König gegen die Kaiserin in Wien gekämpft. Im Jahr, als er König wurde, hat er damit begonnen. Er hat es gewagt, den Feldzug im Dezember zu führen und sich und seine Soldaten damit in unmenschliche Strapazen gestürzt. Und er ist nach all den Kämpfen siegreich gewesen. Er hat das reiche Schlesien zu einem Teil von Preußen gemacht. Nun scheint alles vorbei zu sein, doch hinter den Kulissen schwelt dieser Krieg weiter. Glauben Sie, Habsburg wird den Verlust dieser Ländereien hinnehmen? Oder gar akzeptieren, dass sich Preußen weiter in Europa ausbreitet und sich weiter an die Grenzen Habsburgs heranfrisst wie ein Geschwür?«
»Preußen – ein Geschwür? Herr Rat!«
»Ich spreche aus der Sicht des Feindes, Herr Musikus, verstehen Sie das nicht? Längst schmiedet man im Verborgenen Komplotte. Habsburg sucht Allianzen, um Preußen zu einem neuen Krieg zu zwingen. Zu einem Vergeltungskrieg. Und wenn es dazu kommt, ist es vorbei mit der Musik und all den anderen Tändeleien.«
»Aber wir haben eine Zeit des Friedens. Jetzt herrscht nun mal das, was Sie so abschätzig Tändelei nennen. Der König hat Sanssouci gebaut. Er holt Philosophen und andere Geister an seine Tafelrunde. Voltaire wird eines Tages nach Potsdam kommen. La Mettrie ist bereits hier …«
»Und Seine Majestät wird darüber hoffentlich nicht vergessen, welche Gefahren dieser scheinbaren Insel der Seligen drohen. Wer beschützt den König, wenn Habsburg im Hintergrund mit Frankreich Allianzen anstrebt, während Franzosen das volle Vertrauen des Königs genießen und es hier von ihnen eines Tages wimmelt? Sie haben recht, Herr Musikus, es bricht eine neue Zeit an. Aber wenn wir nicht aufpassen, ist das eine Zeit, die weder Ihnen noch mir noch dem Staat helfen wird. Im Frieden ist die Gefahr des Krieges am größten, denn es wird mit unsichtbaren Mitteln gekämpft. Mit Hofintrigen, Spionage. Methoden, die Seine Majestät gern an den anderen Höfen benutzt, die aber hier in Potsdam …«
»Auch stattfinden?«, fragte Quantz.
»Natürlich. Endlich haben Sie es begriffen.«
»Aber Andreas war nur an den Noten interessiert. Nicht an anderen Dokumenten.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
Quantz antwortete nicht. Hofintrigen, Spionage, hallte es in seinem Kopf nach. So etwas konnte auch ganz andere Formen annehmen. Was, wenn Andreas gar nicht selbst die Noten in seinem Quartier deponiert hatte? Oder wenn er zu dem Diebstahl angestiftet worden war? Wenn es gar nicht um Geheimnisse des Staates ging, sondern um ihn, um Quantz? Er war privilegiert unter den Musikern des Königs. Viele wären froh, eine solche Stelle zu haben. War es denn so abwegig, dass jemand versuchte, ihn und den König zu entzweien?
Nein, überhaupt nicht. Auch wenn er all die Jahre geglaubt hatte, der preußische Hof sei frei von solch üblen Machenschaften. Weil ein gewissenhafter König an dessen Spitze stand. Doch war das eine Garantie? Gerade jetzt, wo das Hofleben im neuen Schloss wieder an Schwung gewann, wo sich etwas veränderte, wo selbst in Friedrichs sparsam geführten Hof etwas Glanz einzog, suchten viele die Gunst des Königs. Und wer schon in der Gunst des Königs stand, lief Gefahr, um sein Amt gebracht und vertrieben zu werden. Und Quantz war einer der ältesten und höchsten Günstlinge überhaupt.
»Sie sind ein weit gereister Mann, Herr Musikus. Sie waren an vielen Höfen. Sie kennen die Methoden.« Weyhe richtete sich wieder auf und sah auf Quantz hinab. »Da hilft es nicht viel, wenn Sie in die Wache marschieren und den Offizier nach Andreas Freiberger ausfragen. Das hätte Ihnen klar sein müssen.«
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