Vor seinem inneren Auge erstand die ganze Pracht der Opernbühne – mit ihren täuschend echten Kulissen, die je nach Handlung Tempel, Wasserfälle, Flusslandschaften oder Gebirge darstellten. Mit Hilfe raffinierter Bühnentechnik war es möglich, Seestürme oder Erdbeben zu inszenieren – mit rollendem Donner und Blitzen.
Aber noch hatte er seine Aufgabe. Er musste keine großen Menschenmengen begeistern mit seiner Musik. Seine Aufgabe war es, einem einzigen Kenner seiner Kunst gerecht zu werden. Und er würde diese Aufgabe verteidigen – gegen jede Hofintrige, gegen jeden Feind.
Er versuchte, seine Gedanken auf die Musik zurückzulenken. Bald waren die flatternden musikalischen Motive wieder da, und es war, als brauche er die Hand nur auszustrecken, um eines von ihnen zu erhaschen. Ein Glücksgefühl durchzuckte ihn.
Als wäre Weyhes Gesicht in Übergröße zurückgekehrt, schlug eine Riesenfaust zu. Quantz wurde nach hinten gedrückt, ein stechender Schmerz blitzte durch seinen Rücken. Instinktiv versuchte er sich aufzurichten, doch etwas zog ihn. Ein Schleifen und Poltern ertönte, dann drehte sich alles nach rechts, sodass mit einem Mal brauner Waldboden auf das Seitenfenster zuraste. Der Korb mit dem Proviant entlud seinen Inhalt im Kutscheninneren. Eine Weinflasche knallte gegen Quantz’ Kopf und kollerte irgendwo hin.
Ächzend befreite er sich aus der kleinen Kabine. Ein Stück weiter versuchte Franz, die Pferde zu beruhigen, die voller Angst mit den Augen rollten und mit den Hufen scharrten. Wenigstens das machte der Junge richtig. Radbruch bei einer Kutschfahrt kam hin und wieder vor. Quantz biss die Zähne zusammen, als der Schmerz in seinem Rücken nicht weichen wollte.
Die Kutsche lag auf der Seite. Das Gepäck, das auf dem Dach untergebracht gewesen war, hatte sich gelöst und war zehn, zwanzig Schritte weit zwischen die Bäume geschleudert worden.
»Es tut mir leid, Herr«, rief Franz, die Augen vor Schreck weit aufgerissen. Das ohnehin hellhäutige Gesicht war noch bleicher.
»Ist dir etwas geschehen?«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Ihnen?«
»Nicht der Rede wert. Sammele das Gepäck ein.«
Franz machte sich an die Arbeit. Er war offenbar froh, dass ihm jemand sagte, was zu tun war. Wahrscheinlich hatte der Junge noch nie einen Radbruch erlebt. Wie konnte Brede einen so unerfahrenen Gehilfen auf eine solche Reise schicken?
Quantz fragte sich, wo sie überhaupt waren. Der Weg führte gerade durch ein Wäldchen. Die sogenannte Straße war nichts als eine sandige Bahn, die manchmal mehr, manchmal weniger vom Wurzelwerk der hohen Kiefern durchzogen war. Eine solche Wurzel hatte der Achse wohl den Rest gegeben.
Er erinnerte sich, dass irgendwann die Häuser von Zehlendorf neben der Kutsche aufgetaucht waren. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel. Berlin konnte nicht mehr weit sein.
»Wo sind wir hier?«, fragte er den Jungen, der die Bagage am Wegesrand zusammengetragen hatte. Die Pferde waren an einem Baum festgebunden und verhielten sich wieder ruhig.
»Fast in Steglitz, Herr.«
»Sind wir unterwegs Brede schon begegnet?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Du glaubst nicht? Hast du nicht aufgepasst, Kerl?«
Franz blickte zu Boden. »Doch … ich bin sicher.«
»Er wollte doch heute zurückkehren, oder? Dann wird er noch kommen. Du wartest hier auf ihn. Er wird dir helfen, und ihr könnt gemeinsam die Pferde nach Potsdam oder nach Berlin bringen. Und ich muss nun sehen, wie ich nach Berlin komme.« Quantz blickte die Straße entlang.
»Vielleicht kann ich Euch ein Pferd zum Reiten überlassen?«, schlug Franz vor, der sichtlich froh war, dass sein Fahrgast ihn angesichts des Unfalls milde behandelte und auch noch Vorschläge machte, wie es weiterging.
»Kein schlechter Gedanke. Das könnten wir versuchen. Und wenn Brede nicht kommt, reitest du mit dem anderen Gaul zurück. Du kannst doch reiten, oder nicht?«
»Natürlich.« Jetzt schwang Stolz in Franz’ Stimme mit. »Ich bin mit Pferden groß geworden.«
Quantz musste lächeln. Groß? Der Knabe war höchstens fünfzehn. Doch mit den Tieren kam er offensichtlich gut zurecht. Franz band eines der Pferde los und sprach dabei beruhigend auf es ein.
»Ich habe allerdings keinen Sattel«, sagte er. »Und was geschieht mit Eurem Gepäck?«
Quantz überlegte. Er hatte heute Abend im Schloss Monbijou zu musizieren. Dafür brauchte er seine beste Kleidung, seine Noten und natürlich …
Hoffentlich war seiner Flöte nichts geschehen! Er schob einen der Koffer zur Seite, öffnete ihn, holte die Schatulle heraus. Es war ein mit Samt ausgeschlagener Kasten mit vier Vertiefungen, in die die Teile genau hineinpassten.
Franz sah neugierig herüber. Wahrscheinlich hatte er noch nie ein solches Instrument gesehen.
»Ist das eine der Pfeifen, die der König spielt?«, fragte der Junge.
»Es ist eine Querflöte. Aber die spielt nicht der König, sondern ich. Vielleicht aber werde ich mit Seiner Majestät zusammen musizieren.«
Franz sah die Schatulle an, als wäre sie etwas Heiliges. Er hob die Hand und streckte den Finger aus. Es schien, als hätte er sie gern berührt, wagte es aber nicht. Dieses Ding da hatte etwas mit dem König zu tun. Es war in der Nähe des Monarchen gewesen und würde wieder in seiner Nähe sein. Friedrich hatte es sogar berührt. Wenn man es ansah, blickte man sozusagen auch ein wenig auf den König selbst und bekam etwas von seinem Glanz ab. Es entstand eine andächtige Stille.
In diesen Moment hinein platzte fernes Hufgetrappel. Das typische Kollern näherte sich aus der Potsdamer Richtung. Quantz packte die Schatulle weg und erhob sich, wobei er wieder gegen das Stechen in seinem Rücken ankämpfte. Dann sah er der Kutsche entgegen, die zwischen den Bäumen erschien.
Kaum hatte der Kutscher bemerkt, was auf der Straße geschehen war, zügelte er die Pferde. Aus dem Fahrzeug erscholl eine Stimme: » Arrêter … Anhalten …« Ein Mann steckte den Kopf aus dem Seitenfenster und grinste Quantz entgegen, als sei hier kein Unglück geschehen, sondern als finde ein Volksfest statt.
Das Gefährt kam zum Stehen. Noch als sich der aufgewirbelte Straßenstaub senkte, stiegen zwei Männer aus.
Der eine war der Marquis d’Argens – seines Zeichens Friedrichs Kammerherr und somit ein enger Vertrauter des Königs. Der Marquis erkannte Quantz und begrüßte ihn, während der andere neugierig um die havarierte Kutsche herumstrich. Er war derjenige, der aus dem Fenster gegrinst hatte. Aber jetzt wurde Quantz klar, dass diese Miene in das Vollmondgesicht eingegraben war.
»Bonheur«, rief der Mann fröhlich. »Welch ein Glück Sie gehabt haben, Monsieur. Man kann Ihnen nur gratulieren.« Die Stimme war Quantz vom ersten Moment an unangenehm. Sie schnitt ihm hell und näselnd in die Ohren. Wenn sie ein Lichtstrahl gewesen wäre, hätte man die Augen schließen müssen, weil sie blendete.
»Darf ich vorstellen …« D’Argens deutete auf den kleinen Mann mit Mondgesicht, der zu ihnen getreten war. »Monsieur La Mettrie. Sie haben sicher schon von ihm gehört.«
Quantz machte den obligatorischen Kratzfuß und verbarg damit, dass er innerlich vor Überraschung zusammenzuckte.
Von diesem La Mettrie sprach man in der ganzen Stadt. Er war Philosoph und Arzt – sagten die einen. Die anderen hielten ihn für einen Ketzer und Quacksalber. In Holland war er von den Behörden verfolgt worden. In seinen Schriften vertrat er die skandalöse Meinung, der Mensch habe keine Seele und sei nichts anderes als eine Maschine.
La Mettrie ahmte Quantz’ Kratzfuß nach und begrüßte ihn.
Man hätte schon äußerlich erkennen können, dass man es mit Franzosen zu tun hatte – einem Volk, dem der Ruf der Eitelkeit und der übertriebenen Mode vorauseilte. D’Argens’ Rock besaß violette Glasknöpfe und war mit grünen Tressen geschmückt. Die Farbkombination setzte sich an seinem Hut fort, der obendrein noch mit weißen Federn geschmückt war. La Mettrie hatte sich für ein leuchtendes Rot entschieden, das ihn aussehen ließ wie einen Kardinal – was in so krassem Gegensatz zu den ketzerischen Lehren stand, die er verbreitete, dass man fast glauben konnte, es läge bewusste Ironie darin.
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