»Ich glaube, er ist gar nicht in der Lage, wirkliches Glück zu empfinden. Die Reue wird ihn sofort einholen. Gleich nach dieser auf kriminelle Weise herbeigeführten Befriedigung. Oder zumindest wenn er das nächste Mal die Messe lesen wird.«
»Noch einmal, Monsieur d’Argens – würde die Reue das Glück schmälern? Würden Schuldgefühle das Glück schmälern? Oder würde das Glück nicht umgekehrt vergrößert, wenn es die Reue und die Schuldgefühle gar nicht gäbe? Na, na? Sagen Sie schon! Nur heraus damit.«
»Natürlich wäre das Glück ohne Schuldgefühle größer, aber –«
»Sehen Sie? Das ist genau das, was ich behaupte. Sie geben mir also recht.«
»Aber lieber Monsieur La Mettrie. Es soll nicht so sein. Schuldgefühle sind bei manchen Genüssen durchaus angebracht, finden Sie nicht?«
»Davon habe ich ja gar nicht gesprochen. Ich betrachte nur die Abhängigkeit von Reue und Glück als solche. Es geht nicht darum, was sein soll. Es geht darum, was ist.«
»Aber im wirklichen Leben kommen Sie ohne die Konsequenzen Ihres Tuns doch nicht aus.«
»Was moralisches Handeln ist und was nicht, ist ein ganz anderes Thema.«
»Auf das Sie sicher auch eine Antwort haben, schätze ich.«
»Ich habe sie in meinem Buch über den Menschen als Maschine gegeben. Lesen Sie es nur nach. Lange habe ich ja verheimlicht, dass dieses Buch von mir stammt, denn diese tumbe Masse von sogenannten Gelehrten, denen der Katechismus das Gehirn vernebelt hat, wollte mir ans Leder. Aber jetzt ist es mir recht, dass jeder es weiß. Der König hält seine Hand über mich, und endlich wird es nach dem Vorbild der Antike eine neue Metropole der Weisheit geben. Und sie wird nicht Athen heißen, sondern …«
»Berlin?«
»Potsdam.«
»Und Sie? Sind Sie, um diesen gewagten Vergleich weiter zu bemühen, eher Sokrates oder sein Schüler Plato?«
»Eine interessante Frage, Monsieur. Ich denke, ich kann mir guten Gewissens zugestehen, dass ich beide Rollen in mir vereinige.«
»Ha, ha, jetzt habe ich Sie, La Mettrie. Sie haben von gutem Gewissen gesprochen. Ich denke, so etwas brauchen Sie gar nicht?«
» Touché . Ein klein wenig ist die Eitelkeit mit mir durchgegangen, das gebe ich zu. Solche unvernünftigen Gefühle vernebeln einem den Verstand. Aber was meine Rolle im modernen Preußen betrifft – dabei bleibe ich.«
»Sehr gut! Später wird in den Geschichtsbüchern stehen, dass die Franzosen Preußen groß und bedeutend gemacht haben. Lassen Sie uns darauf anstoßen.«
Kurz darauf erklang ein dumpfer Knall, auf den Gelächter folgte. Dann blitzte Gläserklirren durch die Geräusche der Kutsche.
Quantz hätte auch gern einen Schluck getrunken, doch er war zu beschäftigt mit dem, was er mit angehört hatte. Es war empörend! Solchen Leuten gewährte der König Asyl und stattete sie auch noch mit hohen Ämtern aus! Ketzern und Atheisten, die obendrein auch noch schweinische Romane schrieben!
Er dachte wieder an das Gespräch mit Weyhe. Ob man den König tatsächlich vor sich selbst schützen musste? Seine Majestät hatte den Hof wie einen gewaltigen Kompass in Richtung Frankreich gerichtet. Und nun sog er alles Französische auf – aus persönlicher Leidenschaft oder warum auch immer. Doch ob er wirklich über alles Bescheid wusste, was in den Köpfen seiner französischen Gäste vorging?
Quantz kam eine Formulierung in den Sinn, die der Rat hatte fallen lassen.
Andreas versah seinen Dienst im Schloss. Aber man schickte ihn auch herum. Zu den Kammerherren, die in der Stadt wohnen. Man gab ihm vertrauliche Botschaften in die Hand …
Die beiden Männer, die jetzt gerade auf ihre verdrehte Phantasie anstießen, waren Kammerherren.
Ob Andreas für d’Argens oder La Mettrie Botengänge erledigt hatte? Vielleicht hatte er ein wertvolles Dokument bei sich gehabt, als diese Gestalt hinter ihm her gewesen war? Vielleicht hatte er gar keine Dokumente gestohlen? Vielleicht hatte man sie ihm abgenommen?
Sie näherten sich der Berliner Stadtmauer. Vor dem Potsdamer Tor drängten sich Wagen und Fuhrwerke, um die obligatorische Akzise über sich ergehen zu lassen. Eine Schlange hatte sich gebildet, die bis an den Rand des Waldes reichte, den die Berliner »Tiergarten« nannten.
Die Kutsche fuhr langsam an dem wartenden Volk vorbei. Sie hielten sich nicht einmal eine halbe Minute an dem Tor auf. Die Wachsoldaten wussten, mit wem sie es zu tun hatten.
Gleich hinter dem Tor lag das Haus, in dem Anna, Quantz’ Ehefrau, wohnte. La Mettrie und d’Argens setzten ihn in der engen Straße ab. Der lange Anton, der bei Anna Hausdiener war, kam aus der Tür und lud das Gepäck aus.
» Au revoir , Monsieur«, rief La Mettrie. »Auf Wiedersehen. Es war sehr nett, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Wissen Sie was? Besuchen Sie mich, wenn wir beide wieder in Potsdam sind. Ich logiere im Gasthaus ›La Couronne d’Or‹.«
Quantz musste einen Moment überlegen, was er meinte, doch d’Argens übersetzte schon: »Er meint die ›Goldene Krone‹.«
»Ganz recht«, krähte La Mettrie. »›Die Goldene Krone‹.«
Der Kutscher trieb die Pferde an, und das Gefährt setzte sich in Bewegung.
Quantz nickte Anton zu, der sich die Koffer auflud. Langsam betrat er das Haus und bereitete sich innerlich auf die Begegnung mit seiner Frau vor.
***
Die Stube, in die Andreas geführt wurde, war heller als das Verlies. Auch hier waren die Wände von rohem Stein, es gab kein Fenster, aber Kerzen brannten. Ein Tisch, ein Stuhl und eine schmale Bank bildeten die karge Einrichtung.
»Du bist folgsam«, sagte der Mann, der Andreas wuchtig erschien – wie der Bär, den Andreas voriges Jahr auf dem Markt gesehen hatte. »Das ist gut. Setz dich an diesen Tisch. Hier wirst du arbeiten.«
Arbeiten? Was sollte er hier schon arbeiten? Die Angst, die ihn vorhin noch in Panik versetzt hatte, war zu einem dumpfen Klumpen geworden und in seinen Bauch gewandert.
»Ich habe gesagt, setzen.«
Eine Faust pfiff heran und traf ihn. Andreas knallte gegen den Tisch. Einen Moment war Andreas wie betäubt, dann erfasste ihn eine heftige Welle aus Schmerz, der in einem pulsierenden Rhythmus pochte.
»Setzen, verstehst du mich nicht?«
Andreas griff nach dem Stuhl und zog sich hoch. Er befühlte sein Gesicht. Blut klebte an seinen Fingern.
»Scheinst doch nicht so folgsam zu sein.«
Schließlich saß er auf der Stuhlkante.
»Na also.«
Andreas sah vor sich auf die Tischplatte. Der Mann entfernte sich, dann näherten sich seine Schritte wieder, und er legte etwas auf den Tisch.
»Schau, was ich dir gebracht habe. Das kennst du doch, oder?«
Andreas fasste ins Auge, was da lag. Ja, er kannte es. Es war Papier. Ein ganzer Stapel.
Doch es war nicht irgendeine Sorte Papier. Es waren Bögen mit den fünflinigen Systemen. Notenpapier.
»Du siehst müde aus«, sagte Anna. In ihrem Blick schwang Besorgnis mit. Quantz war jedoch klar, dass sie sich nicht um seine Gesundheit sorgte. In den neun Jahren, in denen sie verheiratet waren, hatte er längst gelernt, dass es ihr nur um eines ging: um Geld. Wenn er also müde aussah, konnte es sein, dass er krank war, und das bedeutete, dass Gefahr für ihr Salär bestand.
»Bist du sicher, dass du gesund bist?« Sie hob die Augenbrauen, die sich von ihrer außergewöhnlich hellen Haut abzeichneten wie dicke Tintenstriche. Schwarz war auch ihr Gewand, das sie als Witwe kennzeichnete, als hätte sie nach dem Tod ihres ersten Mannes kein zweites Mal geheiratet.
»Das sollte ich eher dich fragen«, entgegnete Quantz, obwohl er es hasste, sich auf das Lieblingsthema seiner Frau einzulassen – Gesundheit und Ärzte, oder zumindest das, was Anna unter Ärzten verstand. Es waren Quacksalber und Halsabschneider, die ihren Patienten vorgaukelten, ihnen mit Aderlass, Inhalation vom Rauch kostspieliger getrockneter Kräuter oder irgendwelcher Bäder mit nicht minder teuren Essenzen helfen zu können.
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