Er schüttelte den Kopf, nahm ihre Hand und sah sie an. »Ich habe Angst«, sagte er. Und dann erzählte er ihr, was geschehen war.
Sie hörte aufmerksam zu und blickte Quantz dabei mit ihren großen dunklen Augen an. Er brauchte sich nur diesem weichen, verständnisvollen Blick hinzugeben, und ihm wurde leichter ums Herz.
»Sind Sie sich denn auch sicher?«, fragte sie, als er geendet hatte.
»Was meinst du?«
»Sind Sie sich ganz sicher, dass es niemand von der Wache war, der Andreas verfolgt hat?«
»Ich kann nicht ganz sicher sein. Ich habe ihn ja nicht genau gesehen. Aber wenn es jemand von der Wache war, dann wäre Andreas jetzt nicht verschwunden.«
»Und wenn es jemand anders war – wie soll er an der Patrouille vorbeigekommen sein?«
Später stand Quantz an seiner Werkbank und beschäftigte sich mit der neuen Flöte für den König. Er hatte nun schon die grobe Bohrung absolviert und griff zu einem der Räumer. Seine Hand zitterte so stark, dass er Angst hatte, die Arbeit, die äußerste Präzision erforderte, zu verderben. Er ließ davon ab und vertiefte sich in die seltsamen Noten, die Andreas in der Nacht gebracht hatte.
Es war keine Musik, die Andreas da aufgeschrieben hatte. Es waren eher Tabellen mit Auflistungen von Noten. Musikalisch war es sinnlos. Jedes Notenzeichen stand akkurat in einem von Hand gezogenen Notensystem mit Schlüsseln davor, ordentlich durch einen Taktstrich voneinander getrennt. Es war, als hätte Andreas ein bestehendes Musikstück auseinandergepflückt und seine Einzelteile nach einem verborgenen Muster geordnet.
Quantz verglich die Handschrift mit den Noten des Themas, das Andreas bei ihm aufgeschrieben hatte. Es war dieselbe.
Was waren das nur für Tabellen?
Andreas war verrückt – an dieser Erkenntnis führte kein Weg vorbei. Er spielte mit Noten, als wären sie kindische Bauklötze. Und so wenig ein Kind aus seinen Klötzen eine Kathedrale bauen konnte, so unsinnig war die Vorstellung, Andreas’ Geschreibsel ergäbe eine Melodie. Geschweige denn ein Konzert.
Aber das Thema! Er hatte es fehlerlos notiert. Das war höchst erstaunlich nach so langer Zeit.
Wenn es Quantz gelang, den Lakaien oder wenigstens eine Spur zu ihm zu finden, würde er Antworten bekommen. Und sein Verhältnis zum König würde sich wieder einrenken. Er würde Friedrich beweisen, dass Quantz ihm auch weiterhin treu ergeben war. Der König war streng, aber gerecht.
Das Glockenspiel der Garnisonkirche hatte schon vor über einer halben Stunde seine silbern eingefärbten Choräle über die Stadt geschickt. Es war zwanzig vor elf.
Quantz folgte dem Kanal. Von dem Wasser stieg ein übler Geruch auf, als wollten die schlammigen Ausdünstungen noch immer über die großen Pläne spotten, die den alten König Friedrich Wilhelm I. einst bewogen hatten, diesen Graben bauen zu lassen. Er hatte Potsdam ein wenig von dem Flair der von Kanälen durchzogenen Stadt Amsterdam verleihen wollen.
Der Soldatenkönig hatte Holland geliebt. Das aus Backsteinen gebaute Quartier im Nordosten der Stadt war ein sichtbares Zeichen dafür. Für eine Wasserstraße, die es mit den prächtigen langen Grachten aufnehmen konnte, hatte es dann aber doch nicht gereicht. Das Potsdamer Wassersträßchen war schmal, und obwohl es von der Havel gespeist wurde und tatsächlich so etwas wie einen künstlichen innerstädtischen Havelarm darstellte, war es sehr flach und trocknete in manchen Sommern sogar aus. Gerade schob sich einer der flachen Lastkähne vorbei, für die der Weg immerhin zu gebrauchen war.
Schräg gegenüber war ein altes Fachwerkgebäude abgerissen worden. Nun sollte ein neues steinernes Haus entstehen, wie sie der König für seine Stadt lieber sah.
Quantz kämpfte sich durch das Gewühl aus Menschen, Pferden und Kutschen, aus Lastenträgern, marschierenden Soldaten und aufrecht mit wichtiger Miene einherschreitenden Bürgern.
Erst jetzt wurde ihm bewusst, welch ein schöner Tag heraufgezogen war. Der Frühling hatte vor kurzer Zeit noch in weiter Ferne gelegen. Es hatte so stark geregnet, als habe es die Natur darauf abgesehen, die Stadt, die ja ohnehin von Wasser fast ganz umschlossen war, in dem nassen Element versinken zu lassen. Jetzt spannte sich blauer Himmel über Brandenburg, und die Luft war mild. Als Quantz in die Lindenstraße einbog, begrüßte ihn nicht nur der süße Duft der blühenden Bäume, sondern auch ein Schwarm von Spatzen, der sich auf dem Pflaster niedergelassen hatte, um in den Resten von Gemüse, Brotkrümeln und Stroh herumzupicken, die die dahinholpernden Karren verloren hatten.
Zwischen der Brandenburger Straße und der Beckergasse war die Reihe der Bäume unterbrochen, um einem niedrigen kleinen Fachwerkkasten Platz zu lassen. Davor standen ein paar Uniformierte. Zwei saßen auf Bänken. Alle waren in voller Montur mit Blechmütze, Patronentasche und dem Gewehr in der Hand.
Sie sahen müde aus. Kein Wunder: Der Dienst, der gestern Mittag nach der Parade begonnen hatte, dauerte vierundzwanzig Stunden und bestand aus nichts anderem als Patrouillegehen und Herumstehen.
Es war nicht leicht, mit Soldaten zu sprechen. Der stundenlange Drill jeden Tag auf dem Paradeplatz hinter dem Stadtschloss, im Exerzierhaus, das sie den »Langen Stall« nannten, oder draußen auf dem Bornstedter Feld hatte aus ihnen Automaten gemacht, die kaum etwas anderes konnten, als in Sekundenschnelle ihre Waffen zu handhaben, Granaten zu werfen oder blitzschnell zu knien, aufzustehen, sich hinzuwerfen, aufzuspringen und voranzustürmen – und dann das Spiel wieder von vorn zu beginnen.
Quantz hatte es zum Glück nie selbst mit ansehen müssen, wenn in der Schlacht die Reihen von Tausenden von Soldaten in schnurgerader Phalanx aufeinander zumarschierten. Wie sie durchluden und feuerten, die Gewehre wieder fertig machten, während die hintere Reihe über die Leichen und Verletzten der ersten nach vorn schritt und schoss. Worüber die Ersten wieder bereit zum Feuern waren, bis die Armeen aufeinanderstießen und für die, die das Schießen überstanden hatten, das eigentliche Gemetzel begann – mit Bajonetten und Hauen und Stechen, Mann gegen Mann. Das Ganze war begleitet vom prasselnden Rühren der Trommeln und den quäkenden Oboen, den schrillen Pfeifen – einer wahren Schreckensmusik, von der man beim Morgen- und Abendappell nur eine Ahnung bekam. Quantz hatte genug Soldaten kennengelernt, die ihm davon erzählt hatten.
Er hielt sich gerade und schritt auf die Wache zu. Immerhin besaß er den Vorteil, von großer Gestalt zu sein. Unter dem Vater des Königs wäre aus ihm vielleicht einer der berühmten »langen Kerle« geworden, hätte er kein Talent für die Musik gehabt.
Kaum war zu erkennen, dass er das Häuschen ansteuerte, kam Leben in die müden Grenadiere. Plötzlich standen sie wie eine Mauer vor ihm.
»Halt«, rief einer. »Kein Zutritt.«
»Lass Er mich vorbei«, sagte Quantz.
»Kein Zutritt zur Wache.«
»Lass Er mich mit dem Offizier sprechen. Es ist wichtig.«
»Hat Er etwas zu melden?«
Quantz nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass Passanten aufmerksam wurden. Gegenüber blieben ein paar Männer in armseliger Kleidung stehen und blickten herüber. Tagelöhner, Bettler, die gerade nichts zu tun hatten.
»Was glaubt Er, was ich hier will?«
»Name?«
»Quantz. – In Diensten des Königs«, setzte er hinzu, obwohl das albern war. Jeder in Potsdam war ja im Dienste Seiner Majestät, allen voran die Soldaten hier.
Die Gruppe öffnete sich erst, nachdem einer der Grenadiere durch die niedrige Tür in das Gebäude gegangen war, schließlich wieder herauskam und den anderen ein Zeichen gab.
Quantz trug zwar keinen Helm, doch auch er musste sich nach vorn beugen, als er die Stube betrat. Drinnen schien der Frühlingstag nicht angekommen zu sein. Die beiden Fensterchen zur Lindenstraße hin waren klein, die Gasse auf der anderen Seite ohnehin schmal und dunkel. Die Sonne fand kaum hier herein.
Читать дальше