»Das ist offensichtlich«, schnitt der König ihm das Wort ab. »Erklären Sie es ihm, Fredersdorf.«
Der »Geheime Kämmerer« trat einen Schritt vor. Angesichts seines Amtes und seiner Macht war er bescheiden gekleidet. Sein grauer Rock besaß keine aufdringlichen Verzierungen.
»Seine Majestät beklagt einen Fall von Desertion«, sagte Fredersdorf. »Seine Majestät hofft, dass Sie, Herr Quantz, einen Hinweis geben können – zumal wir …« Er stockte, suchte nach Worten. »Es scheint da eine Verbindung zu geben …«
Der König unterbrach ihn unwirsch. »Es scheint nicht, Fredersdorf, es gibt. Mein lieber Quantz, wir brauchen Ihre Hilfe. Wir suchen Freiberger.«
»Freiberger?« Quantz überlegte. »Ist das ein Soldat, Majestät? Der Name sagt mir nichts …«
»Andreas Freiberger«, präzisierte Fredersdorf. »Er ist als Lakai in Diensten Seiner Majestät. Sie kennen ihn doch, oder nicht?«
»Andreas …« Quantz hatte nie seinen Nachnamen gehört. »Ist er entlaufen?«
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
Man erwartete eine schnelle Antwort, doch Quantz wartete noch. Er war ein mit Monarchen erfahrener Höfling, der wusste, dass es genau solche Angelegenheiten waren, die gefährlich für eine gute Stellung am Hof werden konnten.
Andreas war also verschwunden. Desertiert, wie es in dem Soldatenstaat hieß. Und man brachte Quantz mit diesem Verbrechen in Verbindung. Die Besuche des Lakaien bei ihm waren schon Verstöße gegen die Vorschriften gewesen. Es war ratsam, diese Besuche erst einmal zu verschweigen. »Ich habe nichts mit seinem Verschwinden zu tun.« Das war ja nicht gelogen.
Friedrich stand auf. »So? Vielleicht hilft es Ihnen, wenn wir Ihnen etwas zeigen. Folgen.«
Sie gingen durch die Räume zurück in Richtung des Marmorsaals.
Dort befahl der König einem bereitstehenden Lakaien, eine Tür zu öffnen, und wandte sich um. »Kommen Sie nur weiter. Ich werde Ihnen ein Rätsel stellen, und ich hoffe, Sie werden es lösen.«
Ein Rätsel? Was sollte das nur? Warum kümmerte sich eigentlich Seine Majestät persönlich um die Absentierung eines so rangniedrigen Bediensteten wie Andreas?
Die Tür, durch die sie schritten, war eines Herrschers unwürdig. Es war der fast versteckte Zugang zu den Quartieren der Diener, die sich als aufeinanderfolgende Kammern hinter den Gästezimmern entlangzogen. Hier hausten die Lakaien in engen Gelassen. Sie schliefen in ihren Livreen auf einfachen Lagern und hatten durch in die Wand eingelassene Tapetentüren Zugang zu allen Räumen, in denen ihre Herrschaft rund um die Uhr ihre Dienste erwartete und sich gegebenenfalls durch das Klingeln mit einer Handglocke bemerkbar machte.
Die Luft war hier deutlich schlechter als im übrigen Schloss. Sie war verbraucht, es stank nach menschlichen Ausdünstungen. Friedrich schien es nicht zu stören. Quantz wusste, dass er auf den Schlachtfeldern der Kriege um Schlesien Schlimmeres erlebt hatte. Auch darin unterschied er sich von den anderen gekrönten Häuptern Europas, die kaum persönlich in Schlachten zogen.
Ein Lakai leuchtete ihnen voran. Die anderen hatten wohl angesichts der Visite die Räume verlassen müssen.
»Hier«, sagte der König und deutete auf eine schmale Pritsche aus Holz, die mit einer dünnen Matratze bedeckt war. »Hochheben!« Er wandte sich an Quantz. »Wir haben alles so gelassen, wie es vorgefunden wurde.«
Der Lakai hob die leichten Latten an. Darunter lagen Stapel von eng liniertem Papier, die Quantz sofort als Noten identifizierte.
»Aufheben!« Als sich der Lakai bücken wollte, packte Friedrich ihn am Arm. »Ich habe Herrn Quantz gemeint. Los, aufheben! Ansehen! Was glauben Sie, was das ist?«
Quantz ignorierte das Zerren in seinem Rücken, als er sich hinunterbeugte. Der Stapel war zwei, drei Finger dick. Er erkannte seine eigene Schrift, auch die des Königs.
»Ist es nicht seltsam«, knurrte Friedrich mit kaum unterdrückter Wut in der Stimme, »dass der Kerl unsere Noten aufbewahrt, wo eigentlich sein Nachtgeschirr sein sollte? Wir wollen doch nicht hoffen, dass er sich mit unseren musikalischen Werken den Hintern säubern wollte?«
»Es ist ein Skandal, Majestät«, stammelte Quantz, dem die schlechte Luft zu schaffen machte. Am liebsten hätte er jetzt sein eigenes Nachtgeschirr benutzt.
»Sehr richtig, Herr Quantz. Und der Skandal ist, dass es sich um Noten handelt, die ich bei Ihnen unter Verschluss wähnte. Meine Kompositionen, die Sie als mein Lehrer und Mentor durchzusehen hatten. Ich frage mich, wie diese in die Hände dieses Freiberger kommen, der darüber hinaus auch noch entlaufen ist.«
Quantz schluckte. »Er muss sie gestohlen haben, Majestät.«
»Sehr richtig. Doch wie konnte er das? War er in Ihrem Haus?«
»Ich kann es mir nicht erklären.«
»Ich wiederhole mich ungern. War er in Ihrem Haus? Eine Antwort, mein Herr, wenn es keine Umstände macht.«
»Ja«, brachte Quantz hervor. »Aber nur kurz. Und ich habe nicht gemerkt, dass er –«
Friedrich unterbrach ihn mit einer Armbewegung. »Ich wusste es. Wir werden die Untersuchung fortsetzen. Mitkommen.«
Im Marmorsaal standen die Flügeltüren offen, und ein milder Wind wehte herein. Das Grün der Parklandschaft begann zu leuchten, der Himmel hatte sich vom Grau des frühen Morgens ins Bläuliche verfärbt.
»Ah, da ist Rat Weyhe«, sagte der König, als ein Mann vom Vestibül hereintrat.
Er war noch etwas kleiner als Friedrich und ganz in schlammfarbenes Braun gekleidet. Er verbeugte sich vor dem Monarchen, und als er sich wieder aufrichtete, konnte ihm Quantz ins Gesicht sehen. Die Haut wirkte glänzend wie Wachs, und sie war wie von Narben zerfurcht. Unter seiner Nase ließ der Rat Weyhe sich ein dünnes Oberlippenbärtchen wachsen, das auch bei den Soldaten in Mode war. Quantz hatte es bisher selten an Zivilisten gesehen.
»Weyhe, Sie wissen, was zu tun ist. Herr Quantz wird Ihnen alles sagen, was er weiß. Wir haben zu tun.«
Ohne ihn noch einmal anzusehen, ging der König davon. Fredersdorf folgte. Die Tür wurde geschlossen, und nun stand Quantz mit dem kleinen braunen Mann allein im Raum.
»Seine Majestät überlässt es in seinem Sinn für Zeitersparnis uns selbst, einander vorzustellen«, sagte er. »Rat Weyhe – vom Kriminalkollegium in Berlin. Sie sind der Herr Musikus Quantz, das weiß ich bereits.«
Jetzt, wo der König gegangen war, ließ die Anspannung in Quantz nach. »Das Kriminalkollegium widmet sich einem entlaufenen Lakaien?« Er kannte diese Behörde. Sie war dem Justizdepartement und damit dem Staatsrat unterstellt. An der Spitze stand ein besonders gefürchteter Mann der königlichen Verwaltung – Großkanzler Samuel von Cocceji, dem gleich nach dem König das Justizwesen des gesamten Staates unterstand. Unglaublich, welches Aufgebot man dem kleinen Andreas widmete.
»Ist er denn das?«, fragte Weyhe kühl. »Ein Lakai? Lediglich?«
»Natürlich.«
Weyhe schien die Antwort zu belustigen. »Er ist Ihr Freund, oder?«
»Freund? Aber nein!«
»Nicht? Aus welchem Grund haben Sie ihn denn bei sich empfangen, wenn Sie doch nicht dienstlich mit ihm zu tun hatten? Und das hatten Sie nicht, das weiß ich bereits.«
»Freundschaft …«, begann Quantz. Er brach ab und setzte erneut an. »Andreas ist ein seltsamer Mensch. Er geht seine eigenen Wege. Als Freund würde ich ihn nicht bezeichnen.«
»Wie ist Ihre Einstellung zum König?«
»Wie bitte? Zu Seiner Majestät? Wieso fragen Sie mich das? Selbstverständlich stehe ich Seiner Majestät absolut loyal gegenüber. Ich bin sein Untertan.«
»Auch das ist doch eine Art von Freundschaft, oder? Ist der König Ihr Freund? Moment – antworten Sie nicht gleich. Denken Sie erst nach. Sie haben viel mit Seiner Majestät zusammen erlebt. Sie haben Geheimnisse mit ihm geteilt, als Sie ihn in seiner Zeit als Kronprinz im Flötenspiel unterrichteten. Gegen den Willen des strengen Vaters, der von den musikalischen Interessen nichts wissen durfte, weil er seinen Sohn für das Militär begeistern wollte. Er schreckte bekanntlich auch vor drakonischen Strafen nicht zurück. Sie haben sich jedoch auf seine Seite geschlagen und sich gegen den damaligen König verbündet. Dessen Untertan Sie waren. Was bedeutet das?«
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