Mit dumpfem Rumpeln kündigte sich der Cottesmore-Bus an, und da kam er auch schon zwischen den Hecken angeschlingert wie ein Huhn auf dem Hochseil. Er hielt direkt vor der Bank und schnaufte von der Anstrengung, mit der er sich die Hügel hinauf- und hinunterquälen musste. Die Türen öffneten sich quietschend.
»Ernie, mon vieux !«, begrüßte Maximilian den Fahrer. »Was macht das Transportwesen?«
»Steig ein.« Ernie blickte stur durch die Windschutzscheibe geradeaus. Falls er den müden Scherz mitgekriegt hatte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.
»Nein, heute fahr ich nicht mit, Ernie. Hab nur meine alten Nieren ein Weilchen auf eurer Bank ausgeruht.«
»Die Bänke sind nur für Fahrgäste vorgesehen, die auf einen Bus warten, so steht’s in den Bestimmungen, Max. Das weißt du genauso gut wie ich.«
»Allerdings, Ernie. Danke, dass du mich dran erinnert hast.«
Max rutschte nach vorne und hüpfte von der Bank.
»Dann mal Tschüss«, sagte er, tippte sich an die Hutkrempe und spazierte wie Charlie Chaplin die Straße hinunter.
Die Türen schlossen sich, Ernie legte den ersten Gang ein, und der Bus setzte sich widerspenstig in Bewegung. So gingen wir alle unserer getrennten Wege: Ernie und sein Bus in Richtung Cottesmore, Max in sein Häuschen, und Gladys und ich setzten unsere Fahrt nach Hinley fort.
Die Polizeiwache in Hinley war in dem Gebäude einer alten Postkutschenstation untergebracht. Eingezwängt zwischen einem kleinen Park und einem Kino, blickte die Fachwerkfront finster über die Straße, die blaue Lampe war am Giebel angebracht. Ein in undefinierbarem Braun gestrichener Anbau aus Schlackenbeton war an die Seitenwand geklatscht wie ein Kuhfladen an einen Eisenbahnwaggon. Dort drin vermutete ich die Arrestzellen.
Ich ließ Gladys an einem Fahrradständer grasen, der schon voller offiziell aussehender schwarzer Raleigh-Räder stand, ging die ausgetretene Vortreppe hoch und trat in die Wachstube.
Dort saß ein uniformierter Sergeant am Schreibtisch, kramte in irgendwelchen Akten und kratzte sich mit dem spitzen Ende eines Bleistifts durch das schüttere Haar. Ich lächelte und ging an ihm vorbei.
»He, mal langsam«, brummelte er. »Wo willst du denn hin, Frolleinchen?«
Leute auszufragen gehört offenbar zum Berufsbild des Polizisten. Ich lächelte unbeirrt, als hätte ich ihn nicht gehört, und marschierte einfach weiter auf die offene Tür zu, hinter der ich einen dunklen Flur ausmachen konnte. Blitzschnell war der Sergeant aufgesprungen und hielt mich am Arm fest. Er hatte
Das tat ich nur ausgesprochen ungern, aber ich sah keinen anderen Ausweg.
Zehn Minuten später tranken Wachtmeister Glossop und ich in der Küche der Polizeiwache einträchtig Kakao. Er hatte mir erzählt, dass er zu Hause auch ein Mädchen hatte, genauso eins wie ich (was ich nicht recht glauben wollte). Elisabeth hieß sie.
»Unsre Lissie ist ihrer Mutter’ne große Hilfe, gerade jetzt, nachdem meine Frau im Obstgarten ganz übel von der Leiter gefallen ist. Das Bein hat sie sich gebrochen, nächsten Sonntag ist’s zwei Wochen her.«
Erst dachte ich, er hätte zu viel Beano oder Dandy gelesen und trug ein bisschen dick auf, um sich wichtig zu machen, aber seine ernste Miene und die kummervoll gerunzelte Stirn belehrten mich eines Besseren. Wachtmeister Glossop verstellte sich nicht, also ging ich am besten auf ihn ein.
Darum fing ich unverzüglich wieder an zu schniefen und vertraute ihm an, dass ich keine Mutter mehr hätte, dass sie bei einem Bergsteigerunfall im fernen Tibet ums Leben gekommen sei und dass ich sie schrecklich vermisste.
»Ist ja gut, ist ja gut!«, brummelte er beschwichtigend. »Hier bei uns darf man aber nicht weinen, das stört sozusagen die natürliche Würde dieses Ortes. Wisch dir lieber die Tränen ab, sonst muss ich dich womöglich noch einbuchten.«
Ich brachte ein zaghaftes Lächeln zustande, das er mir mit Zins und Zinseszins zurückzahlte.
Während meiner Darbietung waren mehrere Polizisten auf einen Tee und ein belegtes Brötchen hereingekommen, und jeder hatte mir stumm, aber aufmunternd zugelächelt. Wenigstens hatten sie keine Fragen gestellt.
»Darf ich bitte meinen Vater besuchen?«, fragte ich. »Er
Wachtmeister Glossops Miene wurde mit einem Mal undurchdringlich, und ich merkte, dass ich voreilig gewesen war. Nunmehr saß ich dem Beamten Glossop gegenüber.
»Wart mal«, sagte er und verschwand in einem engen Flur, an dessen Ende ich ein schwarzes Gitter zu erkennen glaubte.
Ich sah mich rasch um. Ich saß in einem trostlosen kleinen Raum, dessen Einrichtung so schäbig wirkte, als hätte man sie einem Trödler direkt vom Lastwagen herunter abgekauft. Die Stuhlbeine waren zerschrammt und abgestoßen, als hätten Hunderte von Beamten sie schon seit hundert Jahren mit Füßen getreten.
In dem vergeblichen Versuch, das Ganze freundlicher zu gestalten, hatte jemand den kleinen Küchenschrank apfelgrün gestrichen, aber die Spüle war ein mit Rostflecken übersätes Relikt, das aussah wie eine Leihgabe aus dem Kreisgefängnis. Gesprungene Tassen und krakelierte Untertassen standen traurig Wange an Wange auf einem Abtropfbrett, und zum ersten Mal fiel mir auf, dass die Fensterstreben in Wirklichkeit halbherzig verkleidete Gitterstäbe waren. Ein eigenartiger, herber Geruch hing in der Luft, das war mir gleich beim Hereinkommen aufgefallen. Es miefte, als wäre ein Glas mit Sardellenpaste, das jemand vor Jahren ganz hinten im Regal vergessen hatte, plötzlich aufgegangen.
Ein Lied aus der Oper Die Piraten von Penzance kam mir in den Sinn. »Polizist sein ist wahrhaftig kein Genuss«, wie ich es mal in einer Aufführung der D’Oyly Carte Opera Company im Radio gehört hatte, und wie immer hatten Gilbert und Sullivan so was von Recht.
Sollte ich vielleicht lieber abhauen? Meine Idee war vielleicht gar zu tollkühn gewesen, eher aus dem Instinkt, Vater zu beschützen, entstanden und einem prähistorischen Winkel meines Gehirns entsprungen. Steh einfach auf, und geh
Ich lauschte und legte dabei den Kopf wie Maximilian ein wenig schief, um mein ohnehin scharfes Gehör noch anzuspitzen. Irgendwo brummten Bassstimmen wie die Bewohner eines fernen Bienenkorbs.
Ich setzte behutsam einen Fuß vor den anderen, wie eine empfindsame Señorita beim Tango, und blieb abrupt an der Tür stehen. Von dort, wo ich stand, konnte ich nur eine Ecke des Schreibtischs im Vorzimmer erkennen, und zu meiner großen Erleichterung lag darauf kein Uniformärmel.
Ich riskierte noch einen Blick. Der Flur war leer, also schob ich mich im Tangoschritt ungehindert zur Tür und trat ins helle Tageslicht hinaus.
Obwohl ich nicht eingesperrt gewesen war, kam es mir vor, als sei mir endlich die Flucht gelungen.
Ich schlenderte zum Fahrradständer. Noch zehn Sekunden, dann würde ich auf und davon sein. Aber da erstarrte ich, als hätte mir jemand einen Eimer Eiswasser über den Kopf gekippt. Gladys war weg! Beinahe hätte ich laut geschrien.
Vor mir standen immer noch sämtliche Beamtenfahrräder mit ihren amtlichen kleinen Lampen und den behördlich vorgeschriebenen Gepäckträgern - nur Gladys war verschwunden!
Ich schaute erst in die eine, dann in die andere Richtung, und stellte beklommen fest, dass die Straßen, wenn man zu Fuß unterwegs war, mit einem Mal ganz anders aussahen. In welche Richtung ging es nach Hause? Wo lang ging es zur Landstraße?
Als hätte ich nicht schon genug Probleme gehabt, zog auch noch ein Gewitter auf. Im Westen brauten sich schwarze Wolken zusammen, und die Wolken, die schon über meinem Kopf dahinjagten, hatten bereits einen unschönen Lilaton angenommen und sahen aus wie Blutergüsse.
Erst packte mich die Angst, dann wurde ich zornig. Wieso war ich auch so bescheuert gewesen und hatte Gladys nicht angeschlossen? Wie sollte ich jetzt nach Hause kommen? Was sollte jetzt aus der armen Flavia werden?
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