Auf einem ovalen Tablett stand ein winziges geschliffenes Parfümfläschchen, das kaum mehr als ein, zwei Tropfen enthielt. Ich zog den Stöpsel heraus und führte ihn unter meiner Nase hin und her.
Es duftete nach kleinen blauen Blumen, nach Bergwiesen und nach Eis.
Ein seltsames Gefühl überkam mich, beziehungsweise ging durch mich hindurch, als wäre ich ein Regenschirm, der sich daran erinnert, wie es ist, wenn man sich bei Regen öffnet. Ich schaute auf das Etikett. Dort stand nur ein Wort: Miratrix.
Ein silbernes Zigarettenetui mit den Initialen H. de L. lag neben einem Handspiegel, auf dessen Rückseite die Flora aus Botticellis Gemälde Primavera eingraviert war. Auf den Drucken nach dem Original war es mir noch nie aufgefallen, aber Flora sah unverkennbar schwanger aus - und durchaus glücklich darüber. Hatte mein Vater Harriet den Spiegel womöglich geschenkt, als sie mit einer von uns schwanger gewesen war? Und wenn ja, mit welcher von uns dreien, mit Feely, mit Daffy oder mit mir? Letzteres hielt ich für eher unwahrscheinlich, eine dritte Tochter war wohl kaum ein Geschenk der Götter gewesen - zumindest nicht in den Augen meines Vaters.
Nein, vermutlich war es Ophelia, die Erstgeborene, gewesen, die ja schon mit einem Spiegel in der Hand auf die Welt gekommen war … vielleicht sogar mit dem hier.
An einem Fenster stand ein Korbsessel, ein wunderbares Plätzchen zum Lesen, und hier, gleich in Reichweite, stand auch Harriets kleine Privatbibliothek. Sie hatte die Bücher aus ihrer Schulzeit in Kanada und den Sommern, die sie bei ihrer Tante in Boston verbracht hatte, nach England mitgenommen: Anne auf Green Gables und Jane in Lantern Hill standen gleich neben Penrod und Merton der Leinwandheld von einem Harry Leon Wilson, und am Ende der Reihe lehnte eine mit Eselsohren versehene Ausgabe von Martyrium im Kloster - die schockierenden Enthüllungen der Maria Monk. Keins der
Auf einem runden Tischchen daneben lag ein Fotoalbum. Ich klappte es auf. Die Seiten bestanden aus grobem, schwarzem Karton, die schwarz-weißen Schnappschüsse trugen Unterschriften mit Kreidestift: Harriet (2 Jahre alt) im Morr is House, Harriet (15 Jahre alt) in Miss Bodycotes Höherer Mädchenschule (1930 - Toronto, Kanada), Harriet mit ihrem Flugzeugdoppeldecker namens »Blithe Spirit«, einer de Havil land Gypsy Moth (1938), Harriet in Tibet (1939).
Die Fotos zeigten, wie sich Harriet von einer pummligen Putte mit goldblondem Lockenschopf zu einem großen, schlanken, lachenden Mädchen (ohne erkennbaren Busen) im Hockey-Trikot und schließlich zu einem Filmstar mit blonder Ponyfrisur wandelte, und wie Amelia Earhart neben ihrem Doppeldecker stand, eine Hand lässig auf das Cockpit gelegt. Von Vater gab es kein einziges Foto. Von uns drei Schwestern auch nicht.
Auf jedem Foto sah Harriet aus, als hätte man Feelys, Daffys und mein Aussehen zusammengeschüttet, einmal kräftig durchgerührt und daraus diese selbstbewusst lächelnde und zugleich liebenswert zurückhaltende Abenteurerin zusammengesetzt.
Als ich ihr Gesicht betrachtete und den Versuch unternahm, durch das Fotopapier bis in ihre Seele zu blicken, klopfte es leise.
Kurze Stille … dann klopfte es noch einmal. Und die Tür ging langsam auf.
Es war Dogger. Er streckte zaghaft den Kopf ins Zimmer.
»Colonel de Luce?«, fragte er. »Sind Sie da drin?«
Ich rührte mich nicht und wagte kaum zu atmen. Dogger machte keine Anstalten einzutreten, sondern blickte stur geradeaus, in der abwartenden Haltung des erfahrenen Dieners,
Aber was hatte er vor? Hatte er mir nicht eben erst erzählt, die Polizei habe meinen Vater mitgenommen? Wie kam er jetzt darauf, dass er ihn in seinem Arbeitszimmer antreffen könnte? War Dogger dermaßen durch den Wind? Oder beschattete er mich womöglich?
Ich öffnete die Lippen ein wenig und atmete langsam durch den Mund, damit mich kein versehentliches Pfeifen der Nase verriet; gleichzeitig sprach ich ein stummes Stoßgebet, dass ich jetzt bitte, bitte nicht niesen musste.
Dogger stand eine halbe Ewigkeit in der Tür wie ein Tableau vivant. Ich hatte in der Bibliothek Stiche von diesem altmodischen Zeitvertreib gesehen, wo man Schauspieler mit Schminke und Puder zutünchte, ehe sie sich zu lebenden, oftmals recht freizügigen Bildern gruppierten, die angeblich Szenen aus dem Leben der antiken Götter darstellen sollten.
Als ich nach einer ganzen Weile hervorragend nachvollziehen konnte, wie sich ein vor Schreck erstarrtes Kaninchen fühlen musste, zog Dogger den Kopf zurück und schloss geräuschlos die Tür.
Hatte er mich gesehen? Und wenn ja, tat er dann jetzt so, als ob nicht?
Ich horchte, aber nebenan war nichts zu hören. Dogger würde sich nicht lange mit Abwarten aufhalten, und als ich fand, dass genug Zeit vergangen war, öffnete ich die Tür und spähte ins Nebenzimmer.
Vaters Zimmer war noch genauso, wie ich es verlassen hatte. Die beiden Uhren tickten vor sich hin, nur dass mir das Ticken jetzt viel lauter vorkam, weil mir der Schreck noch in den Knochen saß. Da mir klar war, dass eine solche Gelegenheit nie wiederkommen würde, fing ich unverzüglich mit der Suche an, indem ich dieselbe Methode anwandte wie in Vaters Arbeitszimmer. Weil aber dieses Zimmer so spartanisch
Das einzige Buch im Zimmer war ein Verkaufskatalog von Stanley Gibbons für eine Briefmarkenauktion, die in drei Monaten abgehalten werden sollte. Ich drehte ihn um und blätterte ihn durch, aber nichts fiel heraus.
In Vaters Schrank hingen erschreckend wenig Kleider: ein paar alte Tweedjacken mit Lederflicken auf den Ellenbogen (die Taschen waren leer), zwei Wollpullover und mehrere Hemden. Ich fasste in die Schuhe und in ein Paar uralte Soldatenstiefel, entdeckte aber nichts.
Das war bedauerlich, denn sonst besaß Vater nur noch seinen Sonntagsanzug, und den musste er angehabt haben, als Inspektor Hewitt ihn mitgenommen hatte. (Das Wort »festgenommen« wollte ich noch nicht einmal denken.)
Vielleicht hatte er die durchbohrte Penny Black irgendwo anders versteckt - zum Beispiel im Handschuhfach von Harriets Rolls-Royce. Genauso wahrscheinlich war es, dass er die Marke längst vernichtet hatte. Eigentlich war das die logischste Lösung. Eine beschädigte Briefmarke ist wertlos. Ihr Anblick hatte Vater aufgewühlt, und es schien mir nur folgerichtig, dass er, kaum dass er am Freitag sein Zimmer aufgesucht hatte, ein Streichholz daran gehalten hatte.
Das hätte allerdings Spuren hinterlassen: Asche im Aschenbecher, ein abgebranntes Streichholz im Papierkorb. Ein Blick genügte, denn beide Behältnisse standen direkt vor mir - und waren leer.
Vielleicht hatte Vater eventuelle Indizien ja ins Klo gespült.
Als ich das dachte, merkte ich, dass ich mich schon an den letzten Strohhalm klammerte.
Gib’s auf, dachte ich. Überlass es der Polizei. Geh wieder in dein gemütliches Labor und arbeite weiter an deinem Lebenswerk.
Ich überlegte - aber nur einen prickelnden Augenblick
Aber diese Freuden musste ich zurückstellen. Ich stand gegenüber Vater in der Pflicht, und es war nun einmal mir zugefallen, ihm zu helfen, besonders jetzt, da er sich selbst nicht helfen konnte. Eigentlich hätte ich mir Zutritt zu seinem Gefängnis verschaffen müssen, ganz gleich, wo man ihn festhielt, und ihm nach Art des Treueschwurs der mittelalterlichen Knappen mein Schwert zu Füßen legen. Auch wenn ich ihm nicht gleich helfen konnte, sollte er doch wissen, dass ich ihn keineswegs im Stich ließ, und da merkte ich auf einmal, wie schmerzlich er mir fehlte.
Ich hatte eine Eingebung. Wie viele Meilen waren es bis Hinley? Konnte ich noch vor Einbruch der Dunkelheit dort eintreffen? Würde man mich überhaupt zu ihm lassen?
Ich bekam derartiges Herzklopfen, als hätte mir jemand eine Tasse Fingerhuttee untergejubelt.
Читать дальше