»Ich hole Vater«, sagte ich. »Wir bringen dich auf dein Zimmer.«
Dogger wandte mir langsam das Gesicht zu, die kreideweiße Maske der Tragödie. Seine Stimme war ganz heiser und kratzig, wie Stein, der auf Stein kratzte.
»Den haben sie mitgenommen, Miss Flavia. Die Polizei hat ihn mitgenommen.«
Feely und Daffy saßen auf dem geblümten Diwan im Salon, hielten einander umschlungen und heulten wie die Luftschutzsirenen. Kaum hatte ich zwei Schritte ins Zimmer getan, um mich zu ihnen zu setzen, erblickte mich Ophelia.
»Wo warst du denn, du kleines Biest?«, fauchte sie, sprang auf und ging wie eine Wildkatze auf mich los. Ihre Augen waren dick verschwollen und rot wie Fahrradreflektoren. »Alle haben nach dir gesucht! Wir dachten schon, du seist ertrunken! Aber nein - wieder nichts!«
Schön, dass du wieder da bist, Flave, dachte ich im Stillen.
»Vater ist festgenommen worden«, sagte Daffy sachlich. »Sie haben ihn mitgenommen.«
»Wo haben sie ihn hingebracht?«, fragte ich.
»Woher sollen wir das wissen?«, fuhr mich Ophelia verächtlich an. »Wahrscheinlich dorthin, wo alle Verhafteten hinkommen. Wo warst du denn nun?«
»Meinst du in Bishop’s Lacey oder in Hinley?«
»Was soll der Unsinn? Drück dich gefälligst klar aus, dummes Ding!«
»In Bishop’s Lacey oder in Hinley?«, wiederholte ich unbeirrt. »In Bishop’s Lacey gibt es nur eine kleine Wache, darum nehme ich nicht an, dass sie ihn dorthin gebracht haben. Das Polizeirevier für unsere Grafschaft befindet sich in Hinley. Darum wird er vermutlich dort sein.«
»Er wird des Mordes beschuldigt«, sagte Ophelia. »Dafür wird man gehängt!« Sie brach wieder in Tränen aus und wandte
Als ich aus dem Salon wieder in die Diele kam, sah ich Dogger die Westtreppe hochgehen, schleppend, Schritt für Schritt, wie ein Verurteilter, der die Stufen zum Schafott hinaufsteigt.
Jetzt oder nie!
Ich wartete ab, bis er außer Sichtweite war, dann stahl ich mich ich in Vaters Arbeitszimmer und schloss hinter mir ab. Ich war noch nie allein in Vaters Zimmer gewesen.
Vaters Briefmarkenalben nahmen eine ganze Wand ein, dicke Lederbände, deren Farben für die Regentschaft der verschiedenen Monarchen standen: Schwarz für Königin Viktoria, Rot für Edward VIII., Grün für Georg V. und Blau für unseren derzeitigen König, Georg VI. Mir fiel wieder ein, dass der schmale scharlachrote Band zwischen dem grünen und dem blauen Wälzer nur ganz wenige Marken enthielt - jeweils eine der neun bekannten Varianten der vier Briefmarken, die König Edward VIII. zeigten und herausgegeben worden waren, ehe er sich mit der Amerikanerin aus dem Staub gemacht hatte.
Vater konnte sich stunden- und tagelang an den unzähligen Konfettifitzelchen erfreuen; mehr wusste ich jedoch nicht über seine Leidenschaft. Nur wenn er von irgendeiner aufregenden Besonderheit in der neuesten Ausgabe von The British Philatelist so begeistert war, dass er uns davon sogar am Frühstückstisch vorschwärmte, erhielten wir einen flüchtigen Einblick in die Freuden seiner einsiedlerischen Welt. Abgesehen von diesen seltenen Gelegenheiten waren wir allesamt, meine Schwestern genauso wie ich, völlig unbeleckt, was Briefmarken anging, während Vater versunken vor sich hin bosselte und seine bunten Papierstückchen mit mehr Vergnügen und Ehrfurcht einsortierte, als andere Männer an den Tag legten, wenn sie Hirsch- oder Tigerköpfe an die Wand hängten.
An der gegenüberliegenden Wand stand eine Kommode
Am hinteren Ende des Zimmers stand, vor der Tür, die auf die Terrasse hinausging, Vaters Schreibtisch, ein Doppelschreibtisch, so groß wie ein Spielfeld, der auch in der Buchhaltung von Scrooge & Marley aus Dickens’ Weihnachtsgeschichte hätte stehen können. Die Schubladen waren garantiert abgeschlossen - ich hatte mich nicht geirrt.
Wo, überlegte ich, würde Vater wohl in einem Zimmer voller Briefmarken eine einzelne Briefmarke verstecken? Denn versteckt hatte er sie bestimmt - genauso wie ich es getan hätte. Vater und ich legten beide viel Wert auf unsere Privatsphäre; daher konnte ich davon ausgehen, dass er nicht so dumm gewesen war, die Marke an einem allzu naheliegenden Ort aufzubewahren.
Darum sah ich weder irgendwo drauf noch spähte ich irgendwo hinein, sondern legte mich gleich auf den Boden wie ein Mechaniker, der die Unterseite eines Automobils betrachtet, rutschte auf dem Rücken durch das Zimmer und nahm sämtliche verfügbaren Unterseiten in Augenschein. Ich schaute unter den Schreibtisch, den Tisch, den Papierkorb und unter Vaters Windsorstuhl. Ich schaute unter die Perserteppiche und hinter die Vorhänge. Ich schaute hinter die Standuhr und drehte die gerahmten Stiche an den Wänden um.
Es waren viel zu viele Bücher, um alle durchzublättern, darum überlegte ich, welches das nächstliegende war. Natürlich! Die Bibel!
Doch ein flüchtiges Durchblättern der König-James-Ausgabe förderte leider nur eine alte Kirchenbroschüre und eine
Da fiel mir plötzlich wieder ein, dass Vater die Penny Black vom Schnabel des toten Vogels gezogen und in seine Westentasche gesteckt hatte. Vielleicht hatte er sie dort gelassen, um sie erst später woanders zu verstecken.
Das war des Rätsels Lösung! Die Marke war gar nicht hier. Wie hatte ich so dumm sein können! Das gesamte Arbeitszimmer stand auf der Liste der allzu offensichtlichen Verstecke natürlich ganz oben. Nun bestand für mich kein Zweifel mehr. Das, was Feely und Daffy fälschlicherweise »weibliche Intuition« nannten, flüsterte mir ein, dass die gesuchte Marke ganz woanders war.
Ich schloss das Arbeitszimmer möglichst geräuschlos wieder zu. Die beiden Heulbojen waren immer noch im Salon, denn ihre an- und wieder abschwellenden Klage- und Zornesäußerungen waren unüberhörbar. Ich hätte bequem an der Tür lauschen können, aber ich hatte Wichtigeres zu tun.
Wie ein Gespenst huschte ich die Westtreppe hinauf und in den Südflügel.
Erwartungsgemäß war es in Vaters Zimmer dunkel. Unzählige Male hatte ich vom Garten aus zu diesen Fenstern emporgeblickt, und jedes Mal waren die dicken Vorhänge zugezogen gewesen.
Der Raum glich einem Museum nach Ende der offiziellen Öffnungszeit. Der starke Geruch von Vaters Duft- und Rasierwässerchen gemahnte an offene Sarkophage und Kanopen, die einst mit wohlriechenden Essenzen gefüllt gewesen waren. Die zierlich geschwungenen Beine des Queen-Anne-Waschtischs wirkten neben dem düsteren gotischen Bett in der Ecke nahezu anstößig, als würde ein grämlicher alter Kammerherr mürrisch dabei zusehen, wie seine Geliebte ihre Seidenstrümpfe von den langen, jugendlichen Beinen rollte.
Sogar die beiden Uhren ließen an längst vergangene Zeiten Die Schlangengrube und das Pendel langsam und tickend hin- und herschwang und matt im Zwielicht blinkte. Im stummen Widerspruch dazu stand auf dem Nachttisch eine kleine georgianische Uhr. Ihre Zeiger standen auf 3.15 Uhr, die der Kaminuhr auf 3.12 Uhr.
Ich ging einmal quer durchs Zimmer.
Harriets Ankleidezimmer - das man nur durch Vaters Schlafzimmer betreten konnte - war verbotenes Territorium. Vater hatte uns dazu erzogen, den Schrein zu respektieren, den er an dem Tag, als er von ihrem Tod erfahren hatte, für sie errichtet hatte. Das war ihm gelungen, indem er uns in dem nie recht widersprochenen Glauben ließ, dass wir bei der allerkleinsten Verletzung dieses Gebots unverzüglich im Gänsemarsch ans Ende des Gartens geführt, an die Backsteinmauer gestellt und standrechtlich erschossen würden.
Die Tür zu Harriets Zimmer war mit grünem Baumwollflanell verhängt und glich eher einem hochkant gestellten Billardtisch. Ich drückte behutsam dagegen und sie öffnete sich beunruhigend lautlos.
Dieses Zimmer wiederum war gleißend hell. Von drei Seiten ergossen sich durch die hohen Fenster wahre Flutwellen aus Sonnenlicht und wurden von bauschigen Dra pierungen aus italienischer Spitze zerstreut. Überhaupt erinnerte das Gemach an das Bühnenbild für ein Stück über den Herzog und die Herzogin von Windsor. Auf der Frisierkommode lagen lauter Bürsten und Kämme von Fabergé, als wäre Harriet nur mal eben ins angrenzende Bad gegangen. An den Parfümflakons von Lalique hingen bunte Ketten aus Bakelit und Bernstein, daneben standen eine niedliche kleine Kochplatte und ein versilberter Teekessel bereit, sodass sie sich den ersten Morgentee selbst zubereiten konnte. In einer schlanken Glasvase verwelkte eine einzelne gelbe Rose.
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