»Bringen Sie den Anschlag an und auch einen im Supermarkt.« Harry legte die Hände aneinander und bildete mit den Zeigefingern ein Dach. »Alle werden ihn sehen, das wissen wir. Dann tun Sie, was der Brief verlangt: auf Anweisungen warten.«
»Ohne Sheriff Shaw anzurufen!« Mim war empört.
»Nun, glauben Sie nicht, er wird Sie unter Bewachung stellen wollen? Es wäre ungeschickt. Der Briefschreiber bekäme Wind davon.«
»Schlagen Sie vor, daß ich ein Köder sein soll?« Mim schlug mit der Hand auf den Tisch.
»Nein.«
»Was schlagen Sie vor, Harry?« Miranda verschränkte die Arme.
»Daß wir auf Anweisungen warten.«
»Wir? Sie wissen nicht, wann und wo ich diese Anweisungen bekommen werde. Man könnte mich in ein Auto verfrachten und niemand würde es merken.«
»Sie hat Recht«, meinte Miranda.
»Ja.« Harry seufzte. »Eile ist geboten. Gefahr in Verzug.«
»Ganz meine Meinung. Harry, überlassen Sie das den Fachleuten.« Mim stand auf und rief Sheriff Shaw an.
»Ich meine trotzdem, wir sollten es mit dem Anschlag über den vermißten Hund versuchen«, sagte Harry zu Miranda, die den Kopf schüttelte. Derweil las Mim Rick Shaw am Telefon den Brief vor.
»Da Larry Johnson ermordet wurde, wird Mutter keine Ruhe geben. Sie will den Mörder vermutlich noch dringender finden als Rick Shaw und Coop.« Murphy war besorgt. »Ich weiß nicht, ob wir sie vom Krankenhaus fern halten können.«
»Aber eins weiß ich«, erklärte Tucker ernst. »Wir bleiben besser bei ihr.«
»Und ich denke, was unter dem Fußboden ist, das ist gefährlich. Pewter, die Infusionspumpen sind nicht wegen Platzmangel da unten. Ich prophezeie, wenn jemand auf den Raum stößt, gibt es wieder einen Toten.« Mrs. Murphy legte die Pfote auf die Briefwaage.
Für Sheriff Rick Shaw und Polizistin Cynthia Cooper war die Woche die reinste Hölle. Die ballistische Untersuchung ergab, daß Larry Johnson mit einer Patrone aus einem Zwanzig-Kaliber-Jagdgewehr getötet worden war.
Während Rick im Laufe der Woche alle verhörte, die bei dem Jagdtreffen, bei den Ställen und in Larrys Patientenkartei gewesen waren, vertiefte sich Coop in die staatliche Computer-Datei über Zwanzig- Kaliber-Jagdgewehre.
Sechsundzwanzig Schußwaffen dieser Art waren in Albemarle County registriert, vom handgefertigten italienischen Modell zum Preis von 252.000 Dollar, das Sir H. Vane-Tempest gehörte, einem schwerreichen Engländer, der vor fünf Jahren nach Crozet gezogen war, bis zu der gewöhnlicheren Variante für 2789 Dollar, einem ordentlichen Jagdgewehr des Herstellers Sturm & Ruger.
Coop suchte geduldig jeden Besitzer eines Jagdgewehrs auf. Niemand meldete eine Schußwaffe als gestohlen. Sie bat alle Besitzer, einer Untersuchung des Gewehrs zuzustimmen, um sehen zu können, ob kürzlich damit geschossen worden war. Alle waren einverstanden. Alle schrieben auf, wann sie ihr Gewehr das letzte Mal benutzt hatten. Sogar Vane-Tempest, ein Wichtigtuer, gegen den Coop eine starke Abneigung hegte, zeigte sich kooperativ.
Von den sechsundzwanzig Schußwaffen waren vier in jüngster Zeit benutzt worden, und jeder Besitzer gab bereitwillig zu Protokoll, wann und wo er seine Waffe benutzt hatte. Alle vier waren Mitglieder des Kettle and Drum Gun Clubs. Cooper konnte bei keinem der vier eine Verbindung zu irgend jemand im Krankenhaus entdecken.
Da sie als Polizistin das Gesetz vertrat, rechnete sie damit, daß die Leute sie belogen. Sie wußte, daß sie mit der Zeit möglicherweise eine Verbindung finden könnte, aber sie wußte auch, daß die Chancen gering waren.
Die Waffe, die Larry getötet hatte, war höchstwahrscheinlich nicht registriert. Sie konnte vor Jahren gekauft worden sein, bevor die Registrierung in Amerika Vorschrift wurde. Sie hätte in einem anderen Staat gestohlen worden sein können. Könnte, sollte, würde - es machte Coop verrückt.
Rick und Coop studierten Patientenprotokolle, vertieften sich in Wartungsberichte, die Hank Brevard abgefaßt hatte. Sie verfolgten sogar die Lieferung einer Menschenniere bis in den Operationssaal hinein.
Der Tagesablauf im Krankenhaus wurde ihnen allmählich vertraut. Sie kannten die diversen Ärzte, Schwestern, Krankenpfleger und Sprechstundenhilfen. Die einzige Abteilung, die sie betroffen machte, war die von Tussie Logan. Der Anblick der unheilbar kranken Kinder trieb ihnen die Tränen in die Augen.
Als Rick ins Büro kam, fand er Coop über die Blaupausen des Krankenhauses gebeugt.
»Und?«, grunzte er, während er seine schwere Jacke ablegte und schnell die Zigaretten aus der Tasche zog. Er bot ihr eine an, die sie dankbar annahm. Er gab ihr Feuer, zündete dann seine Zigarette an. Beide inhalierten tief, entspannten sich darauf ein klein wenig.
Wohl wurden die Gefahren des Nikotins bekannt gemacht und kritisiert, aber das Vermögen der Droge, vorübergehend zu beruhigen, ließ nicht nach.
Coop zeigte mit der glühenden Spitze der Zigarette auf die Mitte der Blaupause. »Da.«
Rick stützte die Ellbogen auf den Tisch, um genau hinzusehen. »Was da? Sie sind wieder im Heizungskeller.«
»Dieser alte Trakt des Gebäudes. Achtzehnhunderteinunddreißig, hier, dieses alte Viereck. Der Heizungskeller und der eine Flur dahinter. Der Rest wurde neunzehnhundertneunundzwanzig angebaut. Und ist seitdem dreimal renoviert worden, richtig?«
»Richtig.« Er stemmte sein Gewicht auf die Ellbogen, und der Druck im unteren Rücken, der sich in der Kälte verspannt anfühlte, ließ nach.
»Der alte Trakt war ursprünglich als Kornkammer gebaut worden. Schwerer Steinbelag auf dem Boden, dicke Steinmauern, Balken aus ganzen Baumstämmen. Der ursprüngliche Bau wird Jahrhunderte überdauern. Ich habe darüber nachgedacht. Und dies habe ich über die Geschichte hier zusammenstoppeln können« - sie hielt inne, zog an ihrer Zigarette - »mit Hilfe von Herb Jones. Er ist ein großer Geschichtsfreak, also, er sagt, es gab immer Gerüchte, daß die Kornkammer eine Zwischenstation der Underground Railroad war. Es konnte nie bewiesen werden, aber die Eigentümer, die Craycrofts, waren gegen die Sklaverei. Auf friedliche Weise zwar, aber sie sind dagegen angegangen. Doch wie Herb meint, wurde nie etwas bewiesen, und die Craycrofts haben trotz ihres Widerstands gegen die Sklaverei auf Seiten der Konföderierten gekämpft.«
»Nun ja, dazu neigt man eben, wenn Leute in deinen Garten einfallen.« Rick richtete sich auf.
»Die Cray crofts haben alles verloren, wie alle in dieser Gegend. Achtzehnhundertsiebenundsiebzig haben sie die Kornkammer an die Yancys verkauft. Herb sagte auch, daß die Kornkammer während des Krieges als Behelfslazarett diente, aber das gilt ja für alle Gebäude im Bezirk.«
»Ja, man hat die Verwundeten mit der Bahn von Manassas, Richmond, Fredericksburg gebracht. Gott, es muß furchtbar gewesen sein. Haben Sie gewußt, daß im Bürgerkrieg das erste Mal die Eisenbahn eingesetzt wurde?«
»Ja, das wußte ich.« Sie zeigte wieder auf den Heizungskeller. »Wenn dies eine Zwischenstation der Underground Railroad war, dann muß es Geheimkammern geben. Ich bezweifle, daß es so etwas im neuen Trakt gibt.«
»Ab wann war die Kornkammer keine Kornkammer mehr?« Rick setzte sich; denn er merkte, daß er müder war, als er gedacht hatte.
»Neunzehnhundertelf. Die Krakenbills haben sie gekauft. Sie haben sie in gutem Zustand gehalten und als Heulager benutzt. Sie waren es, die sie an Crozet United, Incorporated, die Muttergesellschaft des Krankenhauses, verkauften. Es gibt Krakenbills in Louisa County. Ich habe mich mit Roger, dem Ältesten, in Verbindung gesetzt. Er sagte, er erinnert sich, daß sein Großonkel von der Kornkammer gesprochen hat. An viel mehr erinnert er sich nicht, aber auch er hat Geschichten von der Underground Railroad gehört.«
Читать дальше