»Mach ich.«
Die Temperatur war unter den Gefrierpunkt gesunken. Sie kletterten die Böschung zu den Gleisen hoch.
»Ideen?«
»Nein, Chef. Ich wünschte, ich hätte wenigstens eine einzige.«
»Ja, ich auch.«
Es war ihnen nicht in den Sinn gekommen, die Fußböden im Keller abzuklopfen.
An demselben Montagabend speisten Big Mim und Larry Johnson in Dalmally. Jim Sanburne war auf einer Bezirksbeauftragtenversammlung in Charlottesville, in der Old Lane Highschool, die heute die Bezirksbüros beherbergte.
Die zwei guten Freunde plauderten bei frischem Hummer, Reis, Gemüse, knackigem Senfkohl und einem sehr teuren chilenischen Weißwein.
»... sein Gesicht.« Larry lachte.
»Ich habe seit Jahren nicht daran gedacht.« Lachend erinnerte sich Mim an einen Herrn, der in ihre Tante Tally verliebt gewesen war.
Er hatte die selbstsichere Dame mit seinem Geschick beim Golfen zu beeindrucken versucht. Sie spielten bei einem Clubturnier einen Vierer. Er war im Rough gleich neben dem Grün, das von Zuschauern umgeben war. Es war ein schwüler Tag, die Damen trugen rückenfreie Tops oder sportliche Baumwollhemden und Shorts. Die Herren trugen Shorts, kurzärmelige Hemden und Strohhüte mit bunten Bändern.
Der Ärmste spielte einen steilen Ball aus dem hohen Gras, der direkt in dem üppigen Busen von Florence Taliaferro landete. Sie kreischte, fiel hin, doch der Golfball wollte seinen weichen Rastplatz nicht aufgeben.
Niemandem war eine Regel bekannt, die sich auf eine solche Begebenheit anwenden ließ. Der Ball war unspielbar, aber der Mann wollte nur ungern droppen und einen Strafschlag in Kauf nehmen. Seine Sturheit verbitterte die vergrätzte Tally dermaßen, daß sie von dem Augenblick, als sie ihre Ergebniskarten abgaben, nie wieder ein Wort mit ihm sprach.
Larry knackte eine Hummerschere. »Ich bin verblüfft, was mir alles so durch den Kopf flattert. Ein Vorfall von 1950 kommt mir so wirklich vor wie das, was in diesem Augenblick geschieht.«
»Jaa.« Sie zog das Wort in die Länge; ihre schönen Perlen reflektierten das Kerzenlicht.
Larry wußte, daß Mim stets bei Kerzenlicht speiste; das liebevolle Arrangement zeugte davon, daß Mim nicht auf Luxus, Schönheit und vollendete Proportionen verzichten konnte.
Gretchen kam leise herein, um einen Gang ab- und den nächsten aufzutragen. Sie und Mim waren seit ihrer Mädchenzeit zusammen gewesen. Gretchens Familie hatte bei Mims Eltern gearbeitet.
»Wie findest du das, daß meine Tochter gegen meinen Mann antritt?«
»Aha! Ich wußte doch, daß du was in petto hast.«
»Das sollte sie nicht tun«, meldete sich Gretchen.
»Hab ich dich gefragt?«
»Nein, Miss Mim, deswegen sag ich's ja. Irgendwie muß ich doch zu Wort kommen.«
»Du armes unverstandenes Geschöpf«, hänselte Big Mim sie.
»Daß Sie mir das bloß nicht vergessen.« Gretchen verschwand.
Larry lächelte. »Ihr zwei wärt die ideale Sitcom-Besetzung. Hollywood braucht euch.«
»Du bist zu gütig«, erwiderte Mim mit einem Anflug von Schärfe in der Stimme.
»Wie ich das finde? Ich finde, es ist gut für Marilyn, nicht aber für die Bewohner von Crozet. Niemand möchte einen Sanburne kränken.«
»So ist es«, meinte Mim nachdenklich. »Wenngleich Jim klipp und klar gesagt hat, daß es ihm nichts ausmacht.«
»Trotzdem, es macht die Leute nervös. Keiner will auf der Verliererseite sein.«
»Ja.« Mim legte ihre Gabel hin. »Soll ich ihr sagen, daß sie aufhören soll?«
»Nein.« »Ich kann Jim wohl kaum zum Rücktritt raten. Er war ein guter Bürgermeister.«
»Allerdings.«
»Die Lage ist vertrackt.«
»Für uns alle.« Er kaute ein Stück Hummer, mild und delikat. »Aber die Leute werden auf die Wahl aufmerksam, diskutieren vielleicht über dies und jenes. Wir haben uns an Gleichgültigkeit gewöhnt - bloß weil Jim sich um alles kümmert.«
»Vermutlich. In Crozet gibt es jede Menge Gruppen. Die Leute engagieren sich. Aber du hast Recht, es herrscht eine gewisse politische Gleichgültigkeit. Nicht nur hier. Überall.«
»Die Menschen stimmen mit den Füßen ab. Sie sind gelangweilt, und zwar groß geschrieben.«
»Larry«, sie beugte sich vor, »was geht im Crozet Hospital vor? Ich weiß, daß du mehr weißt, als du mir sagst, und ich weiß, daß Harry sich nicht an einer Sichel verletzt hat.«
»Was hat Harry damit zu tun?«
»Sie konnte unmöglich vom Tatort wegbleiben. Von klein auf hat es sie fasziniert, Dinge aufzuklären. Also wirklich, Charakter ist alles, oder etwa nicht?« Er nickte zustimmend und sie fuhr fort: »Ich wette um meine Ohrringe, daß Harry sich ins Krankenhaus geschlichen hat und verletzt wurde.«
»Sie hätte auch verletzt werden können, hätte sie ihre Nase woanders rein gesteckt. Was, wenn sie um Hank Brevards Haus herumgeschlichen ist?«
»Ich kenne Mary Minor Haristeen.«
Beredtes Schweigen. Dann seufzte Larry. »Liebe Mim, du bist eine der intelligentesten Frauen, denen ich je begegnet bin.«
Sie lächelte übers ganze Gesicht. »Danke.«
»Ob deine Theorie stimmt oder nicht, kann ich nicht so genau sagen. Harry hat mir nichts erzählt, als ich das Postamt mit meiner Anwesenheit beehrte.« Er sprach die Wahrheit.
»Aber du gehst seit, hm, fast fünfzig Jahren im Krankenhaus ein und aus. Du mußt etwas wissen.«
»Ich kann nicht sagen, daß mir bis zu der Tat etwas aufgefallen ist, wie soll ich es ausdrücken, eine Ungereimtheit. Die üblichen Personalkonflikte, Schwestern, die über Ärzte murren, Ärzte, die sich aus Statusgründen oder wegen Vergünstigungen oder hübschen Schwestern gegenseitig Steine in den Weg legen.« Er hob die Hand. »Oh ja, so was gibt's reichlich.«
»Also wirklich.« Mims linke Augenbraue hob sich.
»Aber Mim, so ist es in jedem Krankenhaus. Es ist eine Welt für sich, mit eigenen Gesetzen. Die Menschen arbeiten in einer äußerst gespannten Atmosphäre. Da fallen sie schon mal übereinander her.«
»Ja.«
»Aber die Spannung hat zugenommen, und zwar schon vor Hank Brevards Ermordung. Sam Mahanes hat es, sagen wir, an Zurückhaltung fehlen lassen.«
»Oh.«
»So etwas mögen die Leute nicht, schon gar nicht bei ihrem Chef oder Direktor.«
»Um wen geht's?«
»Tussie Logan.«
»Aha.«
»Sie gehen sich geradezu theatralisch aus dem Weg. Aber Sam arbeitet nicht immer spät abends.« Larry hob die linke Hand, eine Geste des Zweifels und der Beschwichtigung. »Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet.<���«
»Bin ich damit gemeint?«
»Nein, meine Liebe. Wir haben uns würdevoll mit unseren gegenseitigen Fehlern abgefunden.«
»Es lag an mir, nicht an dir.«
»Ich hätte härter kämpfen sollen. Das habe ich dir schon gesagt. Ich hätte an die Tür hämmern und es mit deinem Vater klären sollen. Aber ich hab es nicht getan. Und irgendwie, Schatz, hat sich alles zum Guten gewendet. Du hast geheiratet und zwei liebe Kinder bekommen.«
»Einen Sohn, der sich kaum zu Hause blicken läßt«, sagte sie naserümpfend.
»An wem liegt das?«, schalt er sie freundlich.
»Ich habe mich gebessert.«
»Und dein Sohn und seine Frau werden eines schönen Tages von New York hierher ziehen. Der Süden holt alle seine Kinder heim. Aber was immer die Götter für uns bereithalten - es ist richtig. Es ist richtig, daß du Jim geheiratet hast, daß ich Annabella geheiratet habe, Gott hab sie selig. Und daß wir mit den Jahren Freunde geworden sind. Wer kann sagen, daß unser Bund nicht sogar wegen unserer Vergangenheit um so stärker ist? Mann und Frau zu sein hätte unsere Verbindung womöglich geschwächt.«
»Glaubst du das wirklich?« Darauf wäre sie nie gekommen.
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