»Hm, hm, er verstand es jedenfalls, Vorteile für sich rauszuschlagen. Ich würde ihn vielleicht nicht unbedingt klug nennen. Sicher war er gescheit in technischen Dingen, sonst wäre er nicht technischer Leiter des Krankenhauses geworden. Und ich nehme an, er war sehr tüchtig, gut in der Planung von Gerätekontrollen und Wartung und dergleichen.«
»Ja«, stimmte Fair zu.
»Kein Sinn für Kultur, Kunst, Geselligkeit.«
»Uninteressant. Ich glaube, die Einzigen, die sein Tod wirklich mitnimmt, sind seine Frau und seine Familie.« Fair stand auf und ging zum Fenster. »Verdammt, so ein Mistwetter. Heute Nachmittag ist das Quecksilber auf zehn Grad gestiegen und jetzt kriegen wir Schnee.«
»Was sagt mein Thermometer?« Sie hatte ein Außenthermometer am Küchenfenster, dessen Digitalanzeige auf der Innenseite des Fensters abgelesen werden konnte.
»Minus 1,6.«
»Hoffentlich schneit es weiter. Ich hab das Eis satt.«
»Ich auch. Die Farmstraßen sind nicht immer geräumt, und die Pferde kriegen im Winter öfter Koliken. Klar, wenn die Leute ihnen weniger zu fressen und ihnen ausreichend warmes Wasser zu trinken geben würden, dann hätte ich weniger Krankheitsfälle und sie keine hohen Tierarztrechnungen. Manchmal verstehe ich die Leute einfach nicht.«
»Fair, es dauert Jahre, um ein Pferdekenner zu werden. Für die meisten Leute ist ein Pferd wie ein lebendiger Toyota. Gott helfe dem armen Pferd.«
Er sah sie an, seine Augen blitzten. »Manche Pferde verstehen sich zu rächen.«
»Manche Menschen auch.«
Am folgenden Tag bestätigte sich Fairs Theorie. Der leichte Schnee hielt an diesem Morgen niemanden von der Fuchsjagd ab. Die Fuchsjagd - eigentlich wäre Fuchsverfolgung die korrektere Bezeichnung, da der Fuchs nicht getötet wurde - war für Virginia, was Basketball für den Staat Indiana war. Miranda übernahm gern das Postamt, da die Postberge nach dem Valentinstag kleiner geworden waren. Sie fand, daß Harry eine Abwechslung brauchte; sie arbeitete ja immer nur im Postamt und anschließend auf der Farm. Da die Fuchsjagd die große Liebe ihrer jungen Freundin war, freute es sie, daß Harry mal rauskam. Sie wußte auch, daß Fair an Wochentagen oft auf die Jagd ging, und sie hegte noch immer die Hoffnung, daß die beiden wieder zusammenkommen würden.
Es war noch kalt, als Harry aufsaß, doch dann wurde die Sonne wärmer, und gegen elf Uhr erreichte die Temperatur acht Grad. Die Gruppe der Reiter betrachtete die Berggipfel; alle Bäume hatten Silhouetten aus Eis. Als die Sonne die Gipfel erreichte, funkelten auf den Bergkämmen Millionen von Regenbögen.
In genau diesem Moment entschloß sich ein mittelgroßer Rotfuchs, jedem eine gute Jagd zu wünschen.
Harry ritt Tomahawk. Fair ritt einen Hannoveraner von 17,3 Stockmaß, die richtige Größe für Fair mit seinen Einsneunzig und mit Stiefeln noch etwas mehr. Big Mim besaß so viele fabelhafte Pferde, daß Harry sich fragte, wie sie wohl ihres für den heutigen Tag ausgesucht hatte. Little Mim, stets tadellos in Schale wie ihre Mutter, saß auf einem prächtigen Braunen. Sam Mahanes, der sich den Vormittag frei genommen hatte, hielt die Zügel seines Wallachs Ranulf zu kurz und verkrampft und klammerte sich mit den Schenkeln fest. Der Wallach, ein sensibler Bursche, ließ es sich schon den ganzen Morgen gefallen, weil sie nur trabten. Sobald der Fuchs jedoch ins freie Gelände brach und das Feld losstürmte, riß Sam die Zügel noch dichter an sich.
Beim ersten Hindernis, einem Bretterzaun, war alles bestens, doch drei Galoppsprünge dahinter war eine Hecke, und der Wallach hatte die Nase voll. Kurz vor dem Absprung stemmte er alle Viere in den Boden - Vollbremsung. Sam nahm die Hürde. Sein Pferd nicht. Harry, die hinter Sam ritt, war Zeugin dieses traurigen Schauspiels.
Sam lag auf der anderen Seite der Hürde auf dem Rücken.
Harry verpaßte die Jagd ungern, aber sie wollte helfen, drum parierte sie Tomahawk durch, begab sich zu Sam, der einer Schildkröte ähnelte.
Sie saß ab und beugte sich über ihn. »Sie atmen noch.«
»Knapp. Krieg kaum Luft«, keuchte Sam mit einem scharfen Rasseln in der Kehle. »Wo ist Ranulf?«
»Er steht da drüben bei dem Walnußbaum.«
Während Sam sich hoch rappelte, sich den Hintern abklopfte und seine Kappe zurechtrückte, ging Harry zu dem Pferd, das Tomahawk zuwieherte. »Komm, Freundchen, ich bin bei dir.« Sie warf ihm die Zügel über den Kopf und brachte ihn zu Sam. »Sam, überprüfen Sie Ihren Gurt.«
»Ach ja.« Er fuhr mit den Fingern unter dem Gurt entlang. »Sitzt okay.«
»Da vorne ist ein Baumstumpf. Damit haben Sie's leichter.«
»Ja.« Er hievte sich wieder in den Sattel. »Wir haben viel Boden gutzumachen.«
»Keine Bange. Ich bring uns hin. Können Sie traben?«
»Klar.«
Während sie trabten, horchte Harry auf die Jagdhunde. Sie fragte: »Waren Sie schon mal bei Trey Young?«
»Nein.«
»Ein guter Reitlehrer.«
Noch mufflig wegen seines Sturzes, an dem er allein seinem Pferd die Schuld gab, fauchte Sam: »Wollen Sie mir damit sagen, ich kann nicht reiten?«
Untypisch freimütig zu jemandem, der ihr nicht nahe stand, blaffte Harry zurück: »Ich sage Ihnen, Sie können dieses Pferd nicht so gut reiten, wie es Ihnen möglich wäre. Ich nehme Reitstunden, Sam. Ranulf ist ein braves Pferd, aber wenn Sie die Zügel nicht lockerer lassen und mit den Schenkeln treiben, was erwarten Sie dann? Er kann ja nirgends hin, also steigt er oder er sagt einfach, >mir reicht's<. Und das hat er getan.«
»Tja, hm.« »Dies ist nicht Squash.« Sie sprach von seinem anderen Sport. »Hier ist ein anderes Lebewesen beteiligt. Es geht um Zusammenarbeit und nicht um die Beherrschung des Tieres.«
Sam ritt ruhig. Das gefiel Ranulf natürlich. Schließlich sagte er: »Vielleicht haben Sie Recht.«
»Es soll Spaß machen. Wenn's keinen Spaß macht, gehen Sie nach Hause. Das würde ich nicht wollen.« Sie lächelte ihr kokettes Lächeln.
Er wurde ein bißchen gelöster. »Ich stand in letzter Zeit gewaltig unter Druck.«
»Wegen Hank Brevards Ermordung, nehme ich an.«
»Oh, schon vorher. Der Mord hat den Druck nur verschärft. Ein Krankenhausetat ist fast so kompliziert wie der Staatsetat. Jeder hat ein Lieblingsspielzeug, das er unbedingt angeschafft haben will, aber wenn er das, was er will, bekäme, wann er es will, dann wären wir aus dem Geschäft, und ein Krankenhaus ist ein Geschäftsbetrieb, ob's Ihnen paßt oder nicht.«
»Muß schwierig sein - und dann noch mit der Selbstgefälligkeit der Einzelnen jonglieren.«
»Eine verdammte Bande von Primadonnen. Oh, Sie haben es vermutlich noch nicht gehört. Das Blut an der Klinge, die man Bruce geschickt hat, war Hühnerblut.« Er gab ein ratterndes Lachen von sich. »Ist das zu fassen?«
Rick Shaw hatte sich mit Sam in Verbindung gesetzt, nachdem die Klinge mit der Post gekommen war. Als der Laborbericht eintraf, hatte Rick zuerst Bruce Buxton und dann Sam angerufen.
»Das ging aber fix mit dem Laborbericht.«
»Hühnerblut ist wohl leicht zu analysieren.« Sam lachte wieder. »Aber wer macht so was Albernes? Schickt so was an Buxton?«
»Einer von seinen vielen Fans«, erwiderte Harry trocken.
»Er steht nicht zuoberst auf meiner Beliebtheitsskala, aber wenn Sie am Knie operiert werden müßten, stünde er ganz oben auf Ihrer. So gut ist er. Man läßt ihn sogar nach New York fliegen, um die Linebacker der Jets zu operieren. Daran sehen Sie, wie gut er ist.«
Sie hob die Hand. Sie hielten an und lauschten. In der Ferne hörten sie das Horn des Meuteführers, daher wußte Harry genau, wo sie hin mußten.
»Sam, wir müssen einen Zahn zulegen.« »Okay.«
Sie galoppierten über eine Weide, der Pulverschnee wirbelte hoch. Eine Steinmauer von vielleicht achtzig Zentimeter Höhe grenzte eine Weide von der nächsten ab.
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