Und wen kümmerte die andere? Die konnte warten.
Sie schnallten den Sicherheitsgurt los und wollten mir aus dem Wagen helfen, aber ich hatte über achtzig Stunden in der gleichen beengten Stellung verbracht, und wie Beton schien mein Körper sich dieser Form angepaßt zu haben. Evan meinte unsicher:»Ich glaube, einer von uns sollte einen Arzt holen.«
Ich schüttelte entschieden den Kopf. Es gab einiges, das ich ihnen sagen wollte, bevor die Außenwelt über uns hereinbrach. Ich tastete fahrig unter meinem Schenkel nach den Zetteln, die ich geschrieben hatte, und machte Schreibbewegungen mit der Hand. Conrad zog wortlos den goldenen Kugelschreiber hervor, den er immer bei sich trug, und tattrig schrieb ich auf eine freie Ecke des braunen Umschlags: »Wenn Sie niemandem erzählen, daß Sie mich gefunden haben, können wir den Mann fassen, der mich hierhergebracht hat.« Und als Nachsatz fügte ich hinzu: »Das möchte ich gern.«
Sie lasen die krakeligen Worte, standen verwundert da und kratzten sich fast buchstäblich die Köpfe.
Ich schrieb noch ein wenig: »Bitte decken Sie die Windschutzscheibe zu.«
Das leuchtete ihnen immerhin ein. Conrad verhängte die Vorderseite des Wagens mit einer dicken Regenplane, durch die es gleich zehn Grad kühler wurde.
Evan sah die Plastiktüte am Steuer hängen und zog sie aus dem Gummiring.
«Was zum Teufel ist das?«sagte er.
Ich deutete auf die noch ungetrunkene Portion Wasser, die sich in der Tüte angesammelt hatte. Evan verstand und sah völlig entgeistert aus.
Er nahm mir die beschriebenen Blätter aus der Hand und las sie. Ich trank noch etwas Bier, hielt zwar den Becher mit zittrigen Fingern, spürte aber, wie das Leben mit jedem mühsamen Schluck wieder in all die ausgetrockneten Kanäle einströmte.
Er las bis zum Ende und gab dann Conrad die Blätter. Er starrte mich an, als hätte es ihm die Sprache verschlagen. Ein ungewohnter Zustand bei Evan. Nach geraumer Zeit sagte er langsam:»Dachten Sie wirklich, Conrad oder ich hätten Sie mit hierhergeschafft?«
Ich schüttelte den Kopf.
«Und den armen Clifford Wenkins können Sie auch streichen, denn der ist tot. Man hat ihn Samstag nachmittag aus dem Wemmer Pan gefischt. Er ist auf einer Bootsfahrt ertrunken.«
Die Neuigkeit brauchte eine Weile, bis sie durchdrang. Ich dachte, kein Gestotter mehr, keine feuchten Hände, kein nervöser kleiner Mann… armer, nervöser kleiner Mann…
Ich ergriff Conrads goldenen Kuli, und Evan gab mir einen seiner allgegenwärtigen Notizblöcke zum Schreiben.
«Ich würde mich gern hinlegen. In dem Kombi?«
«Klar«, sagte er, offenbar froh, etwas tun zu können.»Wir richten Ihnen ein Bett her.«
Er hüpfte wieder in den Kombi und packte die ganze Ausrüstung auf eine Seite. In der freigeräumten Hälfte baute er aus den Rücksitzen beider Autos eine Matratze zusammen, mit einem dicken Kopfkissen aus Jacken und Pullovern.
«Das Ritz«, sagte er,»zu Ihren Diensten.«
Ich versuchte ein Lächeln und bekam es im Rückspiegel zu sehen.
Gräßlich. Ich hatte einen Viertagebart, eingesunkene, rötliche Augen und sah so grau und rot aus wie ein Gespenst mit Sonnenbrand.
Behutsamer, als ich es ihnen beiden zugetraut hätte, halfen sie mir aus dem Wagen und trugen mich mehr, als daß sie mich stützten, zu dem Kombi hinüber. Zusammengekrümmt, mit eingerosteten Muskeln und einem Gefühl, als zerknackte es mir die Lendenwirbel, erreichte ich mein Ziel und begann, sobald ich auf dem Behelfsbett lag, mit der wohltuend schmerzhaften Prozedur des Michausstrek-kens. Evan nahm die Regenplane von meinem Wagen und breitete sie über das Dach des Kombis, um die Hitze abzuhalten und auch, um Schatten zu bekommen.
Ich schrieb erneut, und zwar: »Bleiben Sie hier, Evan«, denn ich dachte, sie würden vielleicht meinen Wagen mit einem Startkabel anwerfen und Hilfe holen fahren. Da er unschlüssig aussah, setzte ich mit ziemlicher Verzweiflung hinzu: »Lassen Sie mich bitte nicht allein.«
«Gott«, sagte er, als er das las.»Gott, Kumpel, wir lassen Sie doch nicht allein. «Er war sichtlich aufgewühlt, und das überraschte mich. Er konnte mich ja gar nicht leiden, und in Spanien hatte er mich gnadenlos durch den Wolf gedreht.
Ich trank wieder Bier, schön einen Schluck nach dem anderen. Mein Hals war immer noch hundertmal schlimmer als jede Mandelentzündung, aber langsam zeigte das Befeuchten Wirkung. Ich konnte die Zunge besser bewegen, und sie fühlte sich schon nicht mehr so nach einem aufgequollenen Stück Leber an.
Evan und Conrad setzten sich nach vorn in den Kombi und beratschlagten, wohin sie fahren sollten. Sie hatten keine Unterkunft in Skukusa reserviert, offenbar noch immer das nächstgelegene Camp, und bis zu den in Satara gebuchten Betten waren es zwei Stunden Fahrt.
Satara und die Betten trugen den Sieg davon, was mir nur recht war.
Evan sagte:»Dann können wir eigentlich gleich losfahren. Hier ist es echt zu heiß. Mir langt’s. Wir suchen uns ein schattiges Plätzchen unterwegs und essen zu Mittag. Es ist schon zwei durch, und ich habe Hunger.«
Das klang viel eher nach dem Evan, den ich kannte und verabscheute. Innerlich lächelnd griff ich erneut zum Kuli.
«Merken Sie sich den Ort, damit man ihn wiederfindet.«
«Den Wagen kann jemand anders holen«, meinte Evan gereizt.
«Später.«
Ich schüttelte den Kopf. »Wir müssen wiederkommen.«
«Wieso?«
«Um Danilo Cavesey zu kriegen.«
Sie schauten von dem Block zu meinem Gesicht. Dann sagte Evan nur:»Wie?«
Ich schrieb es auf. Sie lasen es. Die gespannte Erregung erwachte wieder bei Evan, und rasche fachliche Erwägungen furchten Conrads Stirn, denn was ich von ihnen wollte, war ganz nach ihrem Geschmack. Dann kam ihnen beiden im Zusammenhang damit ein anderer Gedanke, und sie sahen mich zweifelnd an.
«Das kann nicht Ihr Ernst sein, lieber Junge«, sagte Conrad.
Aber ich nickte.
«Was ist mit dem, der ihm geholfen hat?«fragte Evan.»Wie wollen Sie gegen den vorgehen?«
«Der ist jetzt tot.«
«Tot?«Er sah mich ungläubig an.»Meinen Sie etwa… Clifford Wenkins?«
Ich nickte. Ich war müde. Ich schrieb: »Das erkläre ich Ihnen, wenn ich reden kann.«
Damit waren sie einverstanden. Sie schlossen die Türen meines Wagens, stiegen wieder in den Kombi, wendeten, und wir rollten die Sandpiste entlang, die für mich so lange Zeit nur eine Reflexion in einem 8 mal 16 Zentimeter großen Spiegel gewesen war.
Conrad fuhr, und Evan skizzierte eine Karte. Anscheinend war es reine Glückssache, daß sie mich gefunden hatten, denn ich hatte eine Meile weit von der Abzweigung eines ebenso verlotterten Wegs gestanden, der zu einem ausgetrockneten Wasserloch führte. Der Wasserlochweg stieß auf einen anderen, der schließlich wieder zu den von Besuchern benutzten Straßen führte. Evan sagte, er könne meinen Wagen auf Anhieb wiederfinden; das sei einfach. Gestern hätten sie jeden Seitenweg zwischen Skukusa und Numbi abgeklappert, setzte er hinzu. Heute war das karge, trockene Terrain südlich des Sabie an die Reihe gekommen, und auf dem fünften Wirtschaftsweg hatten sie mich entdeckt.
Nach fünf oder sechs Meilen kamen wir zu einer kleinen Baumgruppe, die ein wenig gesprenkelten Schatten warf. Conrad fuhr sofort ran, und schon wühlte Evan in der roten Kühlbox. Sie hatten noch Sandwiches, Obst und Bier.
Ich wollte mit Sandwiches und Obst erst einmal warten. Das Bier wirkte Wunder. Ich trank noch welches.
Die beiden anderen futterten drauflos, als handelte es sich um ein ganz alltägliches Picknick. Sie drehten die Fenster weit auf in der Annahme, daß jedes vernünftige Tier bei dieser Hitze schlief, anstatt sorglosen Zweibeinern nachzustellen.
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