Der Wind, der seit unserer Ankunft immer mal wieder aufgefrischt hatte, schwoll plötzlich zu einem anhaltenden Sturm von Norden an und gemahnte uns zur Eile, denn sehr bald würden Odins wirbelnde Bodenwinde hier nicht nur uns Sterbliche herumscheuchen, sondern auch dem Flugzeug gefährlich werden, das sich in der Luft immerhin zu behaupten wußte, am Boden aber glatt umgepustet werden konnte.
Wir rannten durch den weiter anschwellenden Wind, sprangen in die Kanzel, und Kris checkte ausnahmsweise nur das Nötigste, bevor er die Motoren anließ, und prüfte danach nur kurz die Instrumente. Dann richtete er die Nase des Flugzeugs mehr oder weniger direkt auf die Startbahn und gab Vollgas.
Das Flugzeug holperte los, tat aber bei niedriger Geschwindigkeit einen so heftigen Satz in die Luft, daß Kris mit weiß hervortretenden Knöcheln darum kämpfen mußte, es gut in den Steigflug zu bringen. In diesem Augenblick kamen mir gegen meinen Willen all die Hurrikanflieger in den Sinn, die spurlos verschwunden waren… und ich ahnte, wie das passiert sein konnte.
Schwitzend drückte Kris die Nase nach unten und ließ das Flugzeug steigen wie einen Falken, und innerhalb einer Minute waren wir dreitausend Fuß hoch und höher, und Trox war hinter uns im Dunst verschwunden.
Da erst merkte ich, daß ich bei unserem hastigen Aufbruch von der Insel irgendwie meine Kamera liegengelassen hatte. All die vorsorglichen Aufnahmen umsonst! Ich klopfte meine sämtlichen Taschen ab, suchte rings um den Kopilotensitz, aber ohne Erfolg.
Fluchend sagte ich es Kris.
«Na, jetzt fliegen wir jedenfalls nicht mehr zurück. «Er klang zwar verärgert, aber wegen des Fotoapparats umzukehren fand er genau wie ich absurd. Er hatte alle Hände voll damit zu tun, den Flieger ruhig zu halten, aber er war auch froh, wieder in der Luft zu sein, und zog sichtlich erleichtert seinen irren Flugplan aus der Hemdtasche.
«Flieg mal Ostnordost, 80 Grad«, rief er mir als Anweisung zu, während er nach seinem Kopfhörer langte und das Mikrofon heranzog.»Dann kommen wir schon zum Auge.«
«Das Auge ist nicht mehr da, wo es gestern war«, rief ich zurück, übergab ihm das Steuer und legte meinerseits Kopfhörer an.
«Schon klar«, sagte Kris,»hab ich einkalkuliert.«
Nicht einkalkuliert hatte er, daß Odin, wie man das von Hurrikans kennt, plötzlich und ohne uns Bescheid zu geben einen völlig anderen Kurs eingeschlagen hatte. Die ganze Sturmspirale zog jetzt genau nach Westen und würde innerhalb von vierundzwanzig Stunden unweigerlich über der Insel sein, von der wir gerade kamen.
Auf Trox hatten wir unsere Rettungswesten abgelegt und sie in der Kabine gelassen, und als Kris soweit alles im Griff hatte, ging ich nach hinten und zog meine wieder an. Ich brachte ihm seine nach vorn und überredete ihn, sie anzulegen, obwohl er keine Lust dazu hatte.»Wir landen nicht im Bach«, wandte er ein.
«Trotzdem.«
Widerwillig ließ er sich die dünne orange Weste von mir über den Kopf streifen und die Gurte umschnallen.
Unser Vorstoß in Odins Zentrum war keineswegs geordnet oder kontrolliert. Wolken peitschten am Fenster vorbei und wurden allmählich dichter und dunkler, bis wir schlicht durch hundertprozentige Feuchtigkeit oder anders gesagt durch Regen flogen.
Obwohl die Falten auf seiner Stirn und der angespannte Mund ganz den Eindruck machten, als sei er selbst in berechtigter Sorge, erklärte Kris mir streitlustig, das Wetter könne noch so schlimm sein, wir würden nicht aufgeben. Das Flugzeug, stieß er nach, sei den Anforderungen gewachsen, und wenn ich kneifen wolle, hätte ich daheim in Newmarket bleiben sollen.
«Sprichst du mit dir selbst?«fragte ich. Auch über die Kopfhörer konnte man sich wirklich nur noch schwer verständigen.»Wie schnell sind wir?«
Kris antwortete nicht. Ich nahm an, daß der entfesselte Wind uns seitlich abgetrieben hatte und daß wir jetzt dabei waren, sehr schnell ins Innere der Spirale hineinzufliegen. Da ich unsere Position auf keiner der beiden Karten auch nur annähernd bestimmen konnte, verlangte ich energisch, wir müßten wieder mit der Außenwelt Kontakt aufnehmen und den Bordfunk auf die richtigen Frequenzen einstellen. Zögernd willigte Kris ein, aber ich erntete nur Pfeiftöne und Piepser und, was menschlichen Kontakt anging, entfernt und leise, die Stimme einer spanisch sprechenden Frau.
Der wieder erweckte Funk half mir aber doch, klarer zu denken, und so schaltete ich trotz der Turbulenzen um uns herum die beiden Spezialmeßgeräte von Robin ein, sosehr Kris auch brüllte, daß sie nur zum Gebrauch im Auge und in seiner Umgebung bestimmt seien. Er verstummte aber und riß ungläubig die Augen auf, als er sah, wie die Millibaranzeige auf dem modifizierten Radarhöhenmesser von den auf Trox eingestellten 990 absank über 980, 970, 960 und bei 950 erst stockte, dann zitterte und gegen 940 fiel.
Gelangten wir nicht automatisch ins Auge, wenn wir der Talfahrt der Millibars folgten? Im Auge war der Luftdruck immer am niedrigsten. Durch die absteigenden Zahlen bekehrt, begann Kris langsam und stetig nach links zu steuern, in Drehrichtung der Winde.
Normale Höhenmesser messen den Außendruck. Piloten stellen den Druck auf Meereshöhe ein, und in der Luft wird der Druckunterschied als Höhe in Fuß angezeigt. Der Radarhöhenmesser ermittelte unsere Höhe anhand der Zeit, in der ein zur Meeresoberfläche gesandtes Funksignal zurückgeworfen wurde. Ohne ihn wären wir wirklich übel dran gewesen, denn wir hätten nicht gewußt, wieviel Platz zwischen uns und dem Meer war. Ich wünschte nur, ich hätte gelernt, die Instrumente richtig zu bedienen, statt einfach einen Knopf zu drücken, wenn die Finger juckten.
Der Druckwert schrumpfte weiter von 940 auf 935… 930… 924. Zu niedrig, dachte ich. Was das neue Instrument anzeigte, konnte nicht stimmen. Unsinn… oder ich las es falsch… obwohl sogar schon einmal 880 in einem Sturm gemessen worden waren. 924 ging ja noch, aber 923? 921? Wir sind verratzt, dachte ich. Meine Theorie brachte uns um… 920… 919… es war aus. Heute früh auf Cayman hatte der Druck im Auge bei 930 gelegen… so schnell konnte er unmöglich gesunken sein… Aber 919… 919, und er fiel immer noch. Ich sah auf den Standardhöhenmesser und rechnete im Kopf nach. Wir waren fast auf Meereshöhe… gefährlich!» Geh nicht tiefer«, warnte ich Kris.
«Wir sind in Wolken direkt überm Wasser. Zieh hoch, zieh hoch, sonst…«
Kris war ein guter Pilot für einen Sonntagsausflug nach Newmarket. Wir hatten beide keine Ahnung gehabt, welch hohes Können ein Hurrikan erforderte. Mit eigensinnig vorgerecktem Kinn zog er die Maschine bei 919 Millibar langsam nach links, ging vorsichtig tiefer… tiefer… Es blieb bei 919, und ich hielt den Atem an.
Als die Nadel gerade auf 918 Millibar ging, brachen wir durch die Wolken in helles Sonnenlicht.
Das Auge! Wir hatten es wirklich geschafft! Wir waren mitten im Herzen von Odin. Das war gewissermaßen unser Mount Everest, der Höhepunkt unseres Lebens, der Gipfel, den wir nie wieder erblicken würden. Das Auge eines Hurrikans durchfliegen — ich hatte es mir ja gewünscht, aber jetzt erst wurde mir bewußt, wie sehr.
Die 918 Millibar waren hart an der Grenze. Berghohe Wellen bewegten sich dicht unter uns, glitten machtvoll dahin, ohne aber hochzulecken, ohne unseren bemerkenswerten Mikrokosmos zu verschlingen.
Kris liefen Tränen über die blassen Wangen, und mir wahrscheinlich auch.
In diesem wunderbaren Augenblick der Offenbarung und Erfüllung war ich Robin Darcy unerhört und uneingeschränkt dankbar. Auch wenn ich ihm nicht über den Weg traute, auch wenn er Kris überredet hatte, mich anzulügen, auch wenn uns der Abstecher nach Trox ernsthaft in Gefahr gebracht hatte — ohne sein Geld, sein Flugzeug, seine Instrumente und, jawohl, seine geheimen und wahrscheinlich kriminellen Absichten hätten wir beide mit den Füßen auf dem Boden bleiben und Odins Weg von fern auf dem Bildschirm verfolgen müssen, und wir hätten niemals wie meine Großmutter sagen können:»Da war ich, das kenne ich.«
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